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Bahn frei nach Karlsruhe

Bundespräsident Johannes Rau hat die Union indirekt aufgefordert, in Karlsruhe gegen die Entstehung des Zuwanderungsgesetzes zu klagen

Für die rot-grüne Koalition hält Rau weniger Unterstützung bereit, als es deren Freude nahe legt

aus Berlin PATRIK SCHWARZ

Der Sachverhalt ist so komplex, dass sogar der Profiredner Johannes Rau sich nicht auf die freie Rede verlassen wollte. Seine Entscheidung verkündete der Bundespräsident in einer gut 20-minütigen Vorlesung vom Blatt. Trotzdem ist Raus Begründung für seine Unterschrift unter das Zuwanderungsgesetz im Kern denkbar einfach: Er hat bis drei gezählt – so viele Gründe nannte er.

Nach dem bizarren Abstimmungsverhalten des Landes Brandenburg im Bundesrat musste Rau befinden, ob beim Zustandekommen des Gesetzes „zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß“ vorlag. Dies hatten die unionsregierten Länder behauptet, nachdem Bundesratspräsident Wowereit (SPD) das „Ja“ von Brandenburgs Ministerpräsident Stolpe (ebenfalls SPD) gewertet hatte, ohne Einwände des Stolpe-Stellvertreters Schönbohm (CDU) zu berücksichtigen.

Johannes Rau definierte als Dreh- und Angelpunkt die Frage, was unter der vom Grundgesetz geforderten „Einheitlichkeit“ der Stimmabgabe eines Landes im Bundesrat zu verstehen ist. Dazu gebe es bisher keine Rechtsprechung und in der juristischen Literatur keine einhellige Auslegung. Daher gestand der Präsident gestern zunächst Befürwortern wie Gegnern der These vom Verfassungsverstoß zu, „gewichtige Gründe für ihren Standpunkt“ vorbringen zu können. Dann aber listete er drei konkurrierende Begründungen auf, mit denen Juristen zur Auffassung gelangen könnten, dass Wowereit das Gesetz zu Recht als beschlossen wertete.

Variante 1: Stolpes Zustimmung ist ausschlaggebend, weil der Ministerpräsident über die Richtlinienkompetenz verfügt und sein Wort die Einwände seines Innenministers Schönbohm quasi überstimmt. Variante 2: Gültig ist Stolpes Ja auch, wenn man davon ausgeht, dass Schönbohms Satz an Wowereit: „Sie kennen meine Auffassung“, kein förmliches Nein darstellt, wie es für eine Abstimmung vorgeschrieben ist. Variante 3: Selbst wer Variante 2 nicht teilt, kann immer noch zur Überzeugung gelangen, dass Schönbohm auf eine Blockade des Gesetzes verzichtete, indem er schwieg, als Wowereit erneut nachfragte, wie denn Brandenburg nun abstimme – und Stolpe wieder mit Ja votierte. „Ich stelle also fest“, bilanzierte der Bundespräsident, man könne in der Frage der Verfassungsmäßigkeit „jeweils mit guten Gründen zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen.“ Damit aber sei der Nachweis des Verfassungsverstoßes nicht „zweifelsfrei und offenkundig“ erbracht.

Für die rot-grüne Koalition hält Rau trotzdem weniger Unterstützung bereit, als es die freudigen Reaktionen von Gerhard Schröder bis Joschka Fischer nahe legen. „Nach unserer Verfassungsordnung ist es nicht die Aufgabe des Bundespräsidenten, über solche Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen“, betonte Rau. Die Auslegung des Grundgesetzes sei dem Verfassungsgericht vorbehalten. Als indirekte Aufforderung an die Union lässt sich der Satz des Bundespräsidenten verstehen, wer eine gerichtliche Klärung der Frage in Karlsruhe für nötig halte, „dem steht der Weg dazu jetzt offen“.

In der Tat kündigten gestern sofort die unionsgeführten Länder Hessen, Thüringen und Bayern einen so genannten Normenkontrollantrag an. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) kritisierte, mit seiner Unterschrift stelle sich Rau „gegen die absolut überwiegende Meinung in der Staatsrechtslehre“. An einen Eilantrag gegen das Gesetz werde in der bayerischen Staatsregierung „derzeit jedoch nicht gedacht“.

Becksteins Scheu vor einem Kampf mit allen Mitteln fügt sich in das Bild bemerkenswerter Zurückhaltung der Parteiführung von CDU wie CSU. Das Berliner Konrad-Adenauer-Haus begnügte sich mit einer Presseerklärung, weder die CDU-Vorsitzende Angela Merkel noch Kanzlerkandidat Edmund Stoiber schwangen sich gestern zum großen Auftritt auf. Darin einen Ausdruck des Respekts vor dem Amt des Bundespräsidenten zu sehen, wäre wahrscheinlich ebenso naiv, wie einen Anfall von Beschämung zu vermuten über die tadelnden Worte in Raus politischen „Anmerkungen“ zum Zuwanderungsstreit (siehe Dokumentation). Die Union ist vielmehr weiter auf der Flucht vor dem Vorwurf, eine „rechte“ Wahlkampagne zu fahren. Schon auf dem CDU-Parteitag Anfang der Woche hatte Stoiber sich von allzu primitiver Ausländerfeindlichkeit abzugrenzen versucht und die Ablehnung einer verstärkten Zuwanderung rein sozialpolitisch begründet.

Der Bundespräsident hatte in der Tadel-Passage seiner Rede Regierung wie Opposition vorgeworfen, durch die Wahl eines fragwürdigen Abstimmungsverfahrens die Inhalte des Gesetzes in den Hintergrund gedrängt zu haben. Raus Mitarbeiter nahmen ihren Chef gestern in Schutz gegen den Vorwurf, er habe die Rügen so gleichmäßig über die Parteien verteilt, dass eine klare Schuldzuweisung kaum mehr auszumachen sei. „Bei unterschiedlichen Fragen sind unterschiedliche Beteiligte gemeint, aber das können Sie ja selbst herausfinden“, lautete der Lesetipp eines Rau-Vertrauten.

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