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Bahn-StreikNichts geht mehr

Erstaunlich gelassen ertragen viele Bahnkunden den Stillstand. Es ist ja auch der erste Tag.

"Es herrscht Totenstille": Hauptbahnhof Berlin Bild: dpa

Um 5.45 Uhr verkündet Hans-Joachim Kernchen siegessicher im Radio: "Es herrscht Totenstille. In ganz Deutschland ruht der Zugverkehr." Kernchen ist Vorsitzender der Bezirksgruppe Berlin-Sachsen-Brandenburg der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, er kämpft für mehr Geld. Weil der gewünschte Erfolg bisher ausblieb, setzen die in der Gewerkschaft organisierten Lokführer an diesem Dienstagmorgen zwischen 5 und 9 Uhr keinen einzigen Zughebel in Bewegung. "Alle Signale stehen auf Rot", dringt Kernchens Stimme vom Berliner Hauptbahnhof durch den Äther. Rien ne va plus auf der Schiene.

Kernchen hat nicht übertrieben. Fast andächtige Stille herrscht um 6 Uhr an dem "Dreh- und Angelkreuz für Reisende des Nah- und Fernverkehrs", wo normalerweise 300.000 Reisende 164 Züge des Fernverkehrs und 324 Züge des Regionalverkehrs benutzen. Die Praktikanten der Deutschen Bahn, die kostenlos Kaffee verteilen, haben nicht wirklich viel zu tun. "Es ist noch human", sagt einer von ihnen. Der 23-Jährige glaubt zwar, dass die "DB"-Schilder auf seiner Kleidung "ein bisschen risikohaft" sein können. "Aber so lange uns die Leute nicht an die Gurgel gehen "

Niemand geht ihm an die Gurgel. Die Botschaft, auf Züge und S-Bahnen zu verzichten, ist offenbar angekommen. In den ersten zwei Streikstunden herrscht mehr Gelassenheit statt Wut. Sven Kusserow zum Beispiel. Er ist Kriminaloberkommissar der 1. Mordkommission in Frankfurt am Main und sitzt mit Kaffee und Croissant draußen in der Sonne. Kusserow ist um 4.45 Uhr mit dem Nachtzug angereist. Um den schon lange feststehenden Termin für eine Erbschaftsangelegenheit wahrzunehmen, hat er kurzerhand einen früheren Zug genommen. Normalerweise wäre er ab Hauptbahnhof in 42 Minuten mit der S-Bahn am Ziel. Nun wird ihn seine Schwester mit dem Auto abholen. Sauer ist er nicht. "Wieso?", fragt der 38-Jährige. "So lernt man nette Leute kennen. Ich hatte schon eine interessante Unterhaltung mit einem Mädel aus Ulan Bator, die auf ihren Zug nach Moskau wartet."

Zwei Meter neben ihm hockt ein Franke, der kurz vor 5 Uhr mit der S-Bahn noch bis Bellevue kam. "Dann ging nichts mehr." Etwas genervt ist er schon, weil er beim Ticketkauf am Sonntag zwei Stunden angestanden hat. Eigentlich wollte er 6.30 Uhr nach Würzburg und über Frankfurt weiter nach Gran Canaria, wo er in einem Callcenter arbeitet. "Aber mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten", sagt er schulterzuckend. Aller paar Minuten bitten freundliche Frauenstimmen um Verständnis dafür, dass Züge wegen des Streiks ausfallen. "Wir bitten um Ihr Verständnis", heißt es auch auf Stelltafeln vor den Rolltreppen.

Siegfried Müller hat überhaupt kein Verständnis. "Ich bin mehr als sauer!" Müller arbeitet als Fleischer in Berlin und will in seinen Wohnort, das 100 Kilometer entfernte Herzberg. "Ich bin doch nicht verpflichtet, Nachrichten zu hören!", schimpft er. Viele aber äußern ihren Unmut leise. So wie der Lehrer, der mit einer zehnten Klasse auf Abschlussfahrt nach Warnemünde ist. Ratlos steht er vor der "Zug fällt aus"-Anzeige. "Jetzt können wir nicht fahren."

Auf dem Parallelgleis warten zwei Afrikaner auf ihren Zug. Der eine sitzt auf einem roten Koffer, die Beine von sich gestreckt. Der andere, Rostin Manketa, steht sich die Beine in den Bauch und erzählt, dass sie nach Stuttgart müssen. Sie sind von der Menschenrechtsorganisation "Stimme der Stimmlosen" in der Demokratischen Republik Kongo und haben in Schwaben ein Treffen mit Vertretern von "Brot für die Welt". "Wir sind sehr überrascht", sagt er, "aber wir wollen das nicht verurteilen."

Josef Tobor ist weniger zurückhaltend. Der 81 Jahre alte Rentner hat sich mit zwei Reisetaschen und Wanderstock hinter der Schlagzeile der Bild verschanzt. "Bahn-Chaos!" Um 7.30 Uhr wollte er in den Zug nach Norderney steigen. "Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet und nie gestreikt!", schimpft er. "Diese Idioten sollen nicht von Kampfmaßnahmen sprechen und Rentner sitzen lassen!" Wegen "Kampfmaßnahmen im Krieg" hat er Probleme mit den Beinen.

Wenige Minuten nach neun fahren die ersten Züge und S-Bahnen ein. Gewerkschaftsmann Kernchen ist zufrieden. Der 60-Jährige mit dem weißen Stoppelbart verkündet im Schatten von grün-weißen Gewerkschaftsfahnen: "99 Prozent der Züge haben gestanden." Wenn die Bahn sich weiterhin weigert, mit seiner Gewerkschaft in Tarifverhandlungen zu treten, herrscht nächste Woche wieder Totenstille.

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