BVG-Fahren mit Sozialticket: Ein Gefühl von Zwangsouting
Unsere Autorin schildert, wie stigmatisierend es ist, wenn man vor anderen Menschen in Bus und Bahn den Leistungsbescheid der Behörde vorweisen muss.
Und du willst nicht, dass das jede Person in der U-Bahn direkt mitbekommt. Seit Oktober gibt es für Bürgergeldempfänger*innen keine BVG-Kundenkarten in Scheckkartenformat mehr. War alles zu kompliziert. Seitdem musst du eine Kopie von deinem Leistungsbescheid mitführen. Dieser ist im DIN-A4 Format. Auch wenn du den Bescheid auf DIN-A5 ausdruckst – du musst das Dokument mehrfach auffalten und dann mit dem S-Ticket (Sozialticket) zusammen vorzeigen.
Ich spüre die Blicke der anderen förmlich. „Ach guck mal, die da kann sich kein normales Ticket leisten.“ Vielleicht denkt auch niemand etwas. Vielleicht ist, wie in Berlin üblich, jede*r mit sich selbst beschäftigt. Doch gerade in einer sehr vollen U-Bahn kann es unangenehm werden.
Das Thema Datenschutz scheint dann plötzlich auch keine Rolle mehr zu spielen, wenn andere, die dicht gedrängt neben mir stehen, in meinen Leistungsbescheid gucken können. In einem halbleeren Waggon andererseits wirkt das Auseinanderfalten meines Leistungsbescheides schon fast wie ein Theaterstück, eine Persiflage auf die Ohnmacht der Berliner Verwaltung, eine Fahrkarte für Bürgergeldempfänger*innen im Scheckkartenformat ausstellen zu lassen.
Kaum Geld zum Leben
Natürlich bin ich dankbar. Vor 5 Jahren bezahlten Menschen im SGB-II-Bezug, damals noch mit Hartz IV, für ein BVG-Monatsticket AB ganze 27 Euro. Jetzt war es weniger als die Hälfte. Für 9 Euro im Monat konnten „Bedürftige“ wie ich seit Corona Bus, Tram, S- und U-Bahn fahren, so viel sie wollten.
Mit den Sparzwängen und der Haushaltslage sind wir im nächsten Jahr bei 19 Euro. Bei 563 Euro Regelsatz für alles, von Stromkosten bis Zahnpasta, heißen 10 Euro weniger auch drei Vollkornbrote weniger oder das empfohlene Vitamin-D-Präparat den Winter über weglassen oder die 10 Euro über die Berliner Tafel wieder einsparen.
Zwar ist im Regelsatz auch 50,50 Euro für Mobilität vorgesehen, doch hauen die einzelnen Posten insgesamt nicht hin. Der Freizeit-Kultur-Posten geht bei uns für Lebensmittel, Kinderkleidung, Bücher mit drauf. Denn 47,25 Euro sind bei Grundschüler*innen monatlich für Schuhe und Kleidung vorgesehen. Selbst gebraucht kommt man damit nicht hin.
Manchmal tröste ich mich mit dem Gedanken: Vielleicht ist des einen Leid des anderen Glück. Schließlich dauert der Kontrollprozess erheblich länger, da die Kontrolleur*innen die Kundennummer mit der eingetragenen Kundennummer auf dem S-Ticket abgleichen müssen. Der*die Kontrollierende muss sich also genau meinen Leistungsbescheid angucken. In der Theorie. In der Praxis wird meistens einmal genickt und weiter kontrolliert. Und manche fühlen auch mit: „Lass stecken“, sagte mir der Kontrolleur neulich. Ich packte mein Portemonnaie erleichtert wieder in die Tasche.
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