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BRANDANSCHLAG Weil die Staatsanwaltschaft vor 20 Jahren einseitig ermittelte, bleiben die Mörder bis heute unbehelligt. Dabei gibt es eine Spur in die Skinhead-SzeneDas Inferno von Lübeck

Von Peter Müller

Es ist der folgenschwerste Anschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in der Geschichte der Bundesrepublik: Der Brandanschlag auf das dreigeschossige Flüchtlings-Eckhaus Hafenstraße 52 in der Nacht zum 18. Januar 1996 in Lübeck. Zehn Menschen starben, 38 Flüchtlinge wurden zum Teil schwer verletzt.

Der Kriminalfall „Lübecker Hafenstraße“ mutierte zum Politikum, da die Staatsanwaltschaft einseitig ermittelte und sich auf den Bewohner Safwan Eid als Täter festlegte. „Der Vorwurf war von Anbeginn unhaltbar“, sagt Eids Rechtsanwältin Gabriele Heinecke. Eid wurde freigesprochen, andere Verdächtige wurden niemals angeklagt. Die Mörder von Lübeck kommen ohne strafrechtliche Konsequenzen davon.

Um 3.41 Uhr erreicht in jener Januarnacht die Polizei der erste Notruf aus der Hafenstraße 52. Mit dem Handy ruft Françoise Makudila aufgelöst die Nummer 110 an. In drei Sprachen schreit die 29-jährige panisch ins Telefon. In der Notrufzentrale ist wegen der donnernden Feuergeräusche kaum etwas zu verstehen. Noch während des Gesprächs erstickt Makudilas dreijähriger Sohn.

Gegen 3.42 Uhr erreicht ein zweiter Notruf aus einer Telefonzelle die Notrufzentrale. Es ist Ahmed Eid, der zuvor aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen war. In dieser Nacht befinden sich 48 Personen in dem Altbau mit ausgebauten Dach, sie sind aus Angola, Togo, Libanon und Zaire geflohen. Wegen des Feuers und des Rauchs kann sich zu diesem Zeitpunkt keiner der Bewohner in Sicherheit bringen.

Auf dem Dach, am Sims, stehen Ahmeds Brüder Mohammed, Ghasswan und Safwan Eid. Barfuß und in Nachthemden sind sie aus einem Dachfenster geklettert. Aus dem nächsten Fenster hören sie Hilferufe von Aida Alias. Die Brüder helfen der Frau und ihren drei Kindern. Safwan Eid hält den geistig behinderte Sohn der Alias fest, damit er nicht abstürzt.

Rauch und Feuer zwingen auch Joao Bunga auf den Dachsims. Bungas Frau Monique und Tochter Suzanna wissen sich nicht anders zu helfen, als aus einem Dachfenster zu springen. Monique Bunga stirbt beim Aufprall, die siebenjährige Suzanna später auf dem Weg ins Krankenhaus.

Als der erste Löschzug der Feuerwehr um 3.47 Uhr eintrifft, brennt der Holzvorbau lichterloh, der den Eingang des ehemaligen Seemannsheims der Diakonie bildet. Die rettende Leiter kommt nicht ans Dach, der alte Drehleiterwagen kippt um und knallt aufs Vordach.

Auf dem Dach herrschen panikartige Zustände. Das Feuer hat längst die Dachkammern erreicht. Erst mit einer Steckleiter können Erwachsene und Kinder mit Verbrennungen vom Dach gerettet werden, Safwan Eid steigt als Letzter die Sprossen herab. „Herr Eid war damals etwas schwerer. Er hatte Angst, durch sein Gewicht die Leiter zu beschädigen und damit die Rettung der anderen zu gefährden“, sagt Anwältin Heinecke. „Allein schon dieses Verhalten hätte mehr als Zweifel an dem Vorwurf der Staatsanwaltschaft aufkommen lassen müssen.“

In dieser Nacht starben die drei Erwachsenen Monique Bunga, Sylvio Ammoussou und Françoise Makudila und die sieben Kinder Suzanna Bunga, Rabia El Omari und Jean-Daniel, Christine, Christelle, Miya und Legrand Makudila.

Schon der Tod von Sylvio Ammoussou hätte bei der Staatsanwaltschaft kriminalistische Instinkte wecken müssen: Im Eingangsbereich lag Ammoussous stark verkohlte Leiche, verschnürt von einem dünnen Draht und ohne Rauchspuren in der Lunge, wie später Obduktion und Autopsie ergeben. Er war also wahrscheinlich bereits vor dem Brandausbruch tot. Mit Annegret Sch., einer V-Frau der Polizei, die sich damals in der Lübecker Kneipenszene von Kleinkriminellen und Skinheads herumtrieb, soll er eine Beziehung gehabt haben.

Doch die Staatsanwaltschaft lenkt die brandpolizeilichen Ermittlungen ins Innere des Hauses. Der Sanitäter Jens L. hatte angeben, Safwan Eid habe ihm auf dem Krankentransport gesagt: „Wir waren es.“ Als Gründe habe er einen Streit der Familienoberhäupter genannt und angeben, im ersten Stock eine Flasche Benzin vergossen zu haben. Glas wurde allerdings niemals gefunden. Dreimal wird Jens L. seine Version bis zum Prozess revidieren.

Doch die Weichen sind für die Ermittler gestellt. Laut Brandgutachter der Polizei muss der Brandherd im ersten Stock gelegen haben und Safwan Eid Täter sein. Erst durch einen von Ga­briele Heinecke extern beauftragten Brandspezialisten kommt im Prozess heraus, dass das Feuer mit großer Wahrscheinlichkeit von außen im Vorbau gelegt wurde, wo Ammoussous Leiche gefunden wurde, der die Attentäter überrascht haben könnte.

„Die Staatsanwaltschaft hat nie versucht, diesen rätselhaften Tod aufzuklären“, beanstandet Gabriele Heinecke. Die Brandermittler hatten im Vorbau allerdings so gut wie keine Brandspuren gesichert, weil sie sich auf den ersten Stock konzentriert hatten.

Mit dem neuen Brandherd gewinnt ein zweites Faktum an Bedeutung: Knapp zehn Minuten vor dem ersten Notruf hatten drei Mitarbeiter eines benachbarten Unternehmens Skinheads an einem parkenden Auto gesehen. Nach Pausenbeginn hören die Nachtschichtler dann durch die Lüftungsventilatoren ihres Aufenthaltsraumes Schreie. Sie laufen hinaus, sehen das Haus in Flammen und die Toten Monique Bunga und Suzanna bereits auf dem Fußweg liegen. Gegenüber der Firmeneinfahrt bemerken sie die drei Nazi-Skins erneut, die die Katastrophe beobachten.

Aber auch die Polizei ist zu diesem Zeitpunkt schon auf das Trio aufmerksam geworden und hat Maik W., Heiko P. und René B. routinemäßig vor Ort kontrolliert. In der Nacht war das Trio und ein Freund aus dem mecklenburg-vorpommerschen Grevesmühlen nach Lübeck gefahren, um ein Auto zu klauen. Der Lübecker Polizei waren die Männer schon vor dem Ausbruch des Brandes aufgefallen. Ein Streifenwagen hatte sie an der Tankstelle Paddelügger Weg, sechs Kilometer von der Hafenstraße 52 entfernt, mit ihrem Auto der Marke Wartburg gesehen. Dort hatten sie eine Literflasche Cola gekauft und in einen Kanister mit fünf Liter Benzingemisch eingefüllt.

Die Polizeikontrolle in der Nacht vor Ort erweckte den Verdacht, dass René B., damals 26 Jahre, Maik W., 18 Jahre, und Heiko P., 22 Jahre, mit dem Feuer etwas zu tun haben könnten. Nach der Festnahme stellen Gerichtsmediziner bei ihnen typische Brandlegerspuren fest: versengte Haare, Augenbrauen und Wimpern.

Alle drei geben bei ihren Vernehmungen fadenscheinige Begründungen für die Brandlegespuren an. René B erklärt, diese seien von einer Stichflamme, die beim Hineinleuchten mit dem Feuerzeug in einen Mofatank entstanden seien. Maik W. sagt, er hätte vier Tage vorher einen Hund zunächst lebendig im Ofen backen wollen, ihn dann mit Haarspray eingesprüht und angezündet. Später wird „Klein Adolf“, wie er in Anspielung auf Adolf Hitler genannt wird, vor Freunden prahlen, etwas in Lübeck „angezündet“ zu haben.

Ein gerichtsmedizinisches Gutachten, wonach die Brandspuren typisch für Brandleger und nicht älter als 24 Stunden seien, interessierte die Staatsanwaltschaft nicht. Sie lässt die Skinheads nach 30 Stunden frei. „Die Ermittler haben alles getan, um den massiven Verdacht und die Hinweise auf die drei vor dem Haus stehenden Grevesmühlener und auf einen möglichen rechtsextremen Tathintergrund wegzuwischen“, sagt Anwältin Heinecke. Womöglich auch, weil einer von ihnen als V-Mann der Polizei in der rechten Szene agiert haben könnte.

Dass sich Sanitäter Jens L. verhört haben könnte, schloss die Staatsanwaltschaft aus, obwohl Safwan Eid in der Untersuchungshaft aussagte. „Es kann gut sein, dass ich ‚die waren das‘ gesagt habe.“

Über mehrere Wochen hatte die Staatsanwaltschaft Gespräche des inhaftierten Eid mit Familienangehörigen in der Besucherzelle abgehört. Ein Geräusch, das von dem Dolmetscher des Bundeskriminalamtes als „Mein Gott, vergib mir“ übersetzt worden war, entpuppte sich später nicht als menschlicher Laut, sondern als Türknarren. Und einen Streit von Familienoberhäuptern hatte es nie gegeben, so die Zeugen aus dem Haus.

Am 2. Juni 1996 zweifelte die Jugendkammer des Lübecker Landgerichts fast alle vermeintlichen Beweise der Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten an und entließ Safwan Eid aus der Untersuchungshaft. 1997 brach die Anklage vor dem Landgericht Lübeck endgültig zusammen. Das Gericht sprach Safwan Eid frei. Auch das Kieler Landgericht erneuerte 1999 nach einem Revisionsprozess den Freispruch von Safwan Eid auf Antrag der nunmehr zuständigen Kieler Staatsanwaltschaft.

Heineckes Versuch, durch ein Klageerzwingungsverfahren vor dem Schleswiger Oberlandesgericht eine Anklageerhebung gegen die Grevensmühlener Skinheads durchzusetzen, bleibt erfolglos. „Die Grevesmühlener hatten ein Motiv“, sagt Heinecke „sie waren zur Tatzeit am Tatort, sie hatten für Brandleger typische, frische Brandlegerspuren und Maik W. hat wiederholt Geständnisse abgelegt. Doch die Staatsanwaltschaft wollte damals nicht und will auch heute nicht in Richtung der Rechten ermitteln.“

Demo „20 Jahre Hafenstraße – Refugees Welcome“: Samstag, 16. Januar, 10 Uhr, Lübeck, Hauptbahnhof

Gedenkveranstaltung der Stadt Lübeck: Montag, 18. Januar, 16 Uhr, Lübeck, Mahnmal in der Hafenstraße/Ecke Konstinstraße

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