piwik no script img

Avantgarde-KonzertMusik von anderen Sternen

Als Liebhaber des Lärms war Mario Bertoncini als Enfant Terrible der Neuen Musik. Zu seinem Gedenken lädt die Zwingli-Kirche zu Konzerten ein

Stofftiere sind für ihn Wiederspiegelungen der Seele: Charlemagne Palestine Foto: Flickr/Udo Siegfriedt

Ein kolossaler Dampfzug aus dem 19. Jahrhundert fährt in den Bahnhof ein. An Bord des Speisewagens befindet sich ein gewaltig in den Seilen hängender Fiedler. In etwa so, dazu mit viel knirschendem Metall, windschiefen Streichermelodien und flächigen Sounds, unter denen sich ein pochendes Piano hervorschält, klingt „Cifre“.

Es ist das zwischen 1964 und 1967 entstandene Musikstück des italienischen Komponisten, Erfinders und Musikpädagogen Mario Bertoncini. Im Januar dieses Jahres ist er in Siena gestorben. An diesem Sonnabend sind mehrere Werke von ihm in der Berliner Zwingli-Kirche zu hören.

Nach einer Ausbildung zum Konzertpianisten und einem Studium der Komposition und elektroakustischen Musik begann der 1932 in Rom geborene mit der Präparation von Instrumenten und wurde Mitglied des Komponistenkollektivs „Nuova Consonanza“. Dazu gehörte auch ein ungleich prominenterer Kollege: Ennio Morricone.

Mario Bertoncinis Musik wird hingegen der Avantgarde zugerechnet, ein Begriff, der so treffend wie abschreckend ist. Bertoncini konzipierte und zimmerte Klangobjekte aus Windharfen und Klavieren, die zum Teil aus dem Arsenal eines Science-Fiction-Films stammen könnten.

Musik für Hall & Raum

"5 Seconds" in der Zwingli-Kirche, Rudolfstraße 14, Samstag, 28. September, Zeitkratzer & Zaum: Mario Bertoncini Memorial & Sonntag, 29.­ September., Charlemagne Palestine, jeweils 19 Uhr, 15/13 Euro

Dabei ging der Klangarchitekt Bertoncini so intuitiv wie konzeptionell vor und gab sich nicht unbedingt als Freund der Improvisation zu erkennen. In einem Deutschlandfunk-Porträt von Matthias Entreß von 2002 wird Bertoncini mit einem Satz zitiert, der für ihn als charakteristisch angesehen werden darf: „Die Gefahren einer Systematik ähneln den Gefahren einer Revolution. Am Anfang ist es schön und glänzend, am Ende wird es zur Routine. Und manchmal sogar verbrecherisch.“

Die feine Ironie des Geistlichen

Einige der Werke Bertoncinis, der auch Sonette und bis jetzt unveröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen schrieb, werden nun von zwei Ensembles in Berlin aufgeführt. Zeitkratzer ist ein Solisten-Ensemble der Neuen Musik, das die Barrieren zwischen Ernst und Unterhaltung seit langem beherzt ignoriert und bereits Stücke von Arnold Schönberg und Kraftwerk interpretiert.

Mario Bertoncini hat ihnen eigens das Stück „Sinfonia (De Rispiri)“ geschrieben. Dazu gesellt sich das italienische Percussion-Trio Zaum. Zaum meint hier wohl kaum einen Begriff aus dem Reitsport, sondern die vom russischen Futuristen Welimir Chlebnikow mitentwickelte Kunstsprache Zaum, eine Universalsprache, die sowohl den Sternen als auch den Vögeln verständlich sein sollte.

Dass Mario Bertoncini in Berlin aufgeführt wird, ist eine Heimkehr, war er doch 1974 mit einem Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD nach Berlin gekommen und von 1980 bis 1997 als Professsor an der Universität der Künste tätig. Dass die Konzerte in der Friedrichshainer Zwingli-Kirche zu hören sind, ist definitiv ihrer besonderen Akustik geschuldet. Es hat aber auch eine feine Ironie.

Huldrych Zwingli, Namensgeber der Kirche und Züricher Reformator, ist als Musikverächter in die Geschichte eingegangen. Er verbannte Kirchengesang und Orgelmusik aus dem Gottesdienst. Die Fachliteratur vermutet, dass der durchaus musikalische Zwingli sich in seinem Eifer ein bisschen selbst versteckte.

Anders als Martin Luther war Zwingli allerdings kein Antisemit und stand den Pogrom-Tiraden seines Zeitgenossen verständnislos gegenüber. Was freilich Zwingli, der Minimalist des Glaubens, dem es dabei natürlich um ein Maximum ging, am Sonntagabend sagen würde, sei dahingestellt. Denn da wird in seiner Kirche Chaim Moshe Tza­dik Palestine auftreten, 1947 in New York geborener Sohn osteuropäischer Juden und unter seinem Künstlernamen Charlemagne Palestine ein Pionier der Minimal Music.

Schamanistische Wiederspiegelungen der Seele

Der Pianist, Organist und Sänger Palestine begann mit religiöser jüdischer Musik und lernte Akkordeon und Klavier. Mit gerade mal 12 Jahren wurde er Perkussionist für Beatniks und Mavericks wie Allen Ginsberg, Gregory Corso, Kenneth Anger und Tiny Tim.

Palestines Sound ist weniger metallisch knirschend als ätherisch perlend, was nicht heißt, dass er ohne Wucht daherkommt. Aber ihm ist ein singulär hypnotisches Kontinuum zu eigen, nachzuhören etwa auf „Strumming Music“ von 1974, eines der klassischen Alben Palestines, wenn der Begriff hier erlaubt ist. Der mit Cognac gut präparierte Künstler lässt dort für die Dauer von 45 Minuten das Haltepedal seines Bösendorfers gedrückt, während er wieder und wieder zwei Noten hämmert und Überlagerungen entstehen lässt.

Klingt irre, ist es auch und hat seine Fans bei Freunden des Schrägklangs wie Nick Cave oder Thurston Moore gefunden. Ein glühender Verfechter von „Strumming Music“ ist auch Michael Gira von den Dröhnrockern Swans.

Wenn Charlemagne Palestine seine Konzerte inmitten einer ganzen Armada von Teddybären und Kuscheltieren absolviert, dann mag er als ein weiterer Musiker mit einer Marotte gelten. Für Palestine ist das weit mehr, er sieht die Stofffreunde als schamanistische Wiederspiegelungen der Seele.

„Bear Mitzvah in Meshugahland“ hieß die Ausstellung, die das Jewish Museum New York 2017 mit den vielen Begleitern des Künstlers zeigte. Palestine ist ein Kind Brooklyns, in der Ecke aufgewachsen, wo 1902 ein anderes jüdisches Einwanderer-Paar den Teddybären erfunden hat.

Seine Performances muten an wie ein eskapistisches Kinderspiel. Doch wie jedem Schalk ist es ihm dabei ernst.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!