Autor:innen über Protest in Iran: Feminismus und Revolution
Roya Hakakian und Sama Maani sprechen über die historische Besonderheit der aktuellen Proteste in Iran. Die Gesellschaft verändere sich.
wochentaz: Frau Hakakian, Herr Maani, seit knapp vier Monaten protestieren Iraner:innen unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“. Was zeichnet diese Erhebung aus?
Roya Hakakian (*1966) ist iranisch-amerikanische Autorin und Journalistin. 1984 floh sie aus Teheran in die USA. Ihre Erinnerungen über das Aufwachsen als jüdischer Teenager im nachrevolutionären Iran hat sie unter dem Titel „Journey from the Land of No“ veröffentlicht (deutsch: „Bitterer Frühling“, Goldmann 2009). Weitere Buchveröffentlichungen: „Assassins of the Turquoise Palace“ (Grove Press 2011) sowie „A Beginner’s Guide to America: For the Immigrant and the Curious“ (Vintage 2021).
Sama Maani (*1963) ist österreichischer Schriftsteller, Psychiater und Psychoanalytiker. Er wurde als Sohn iranischer Baha'i in Graz geboren und wuchs in Österreich, Deutschland und im Iran auf. Ausgewählte Buchveröffentlichungen: „Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht“ (Drava 2015), die Erzählung „Teheran Wunderland“ (Drava 2018) und der Roman über eine fiktive Frauenrevolution „Žižek in Teheran“ (Drava 2021).
Roya Hakakian: Seit 1979 ist der Iran durch verschiedene turbulente Momente gegangen. Dieses Mal gibt es aber keine politische Partei oder Organisation, weder von links noch von rechts. Die Abwesenheit einer solchen politischen Infrastruktur ist ein Vorteil, das macht die Proteste weniger ideologisch. Die Proteste drehen sich um den grundlegenden menschlichen Wunsch nach einem normalen Leben. Das Problem ist allerdings, dass es ohne eine solche Infrastruktur kaum möglich ist, sich nachhaltig zu organisieren. Zudem fehlt jeder Dialog zwischen den Protestierenden und den Autoritäten. Früher gab es Forderungen nach höheren Gehältern oder nach einem unverfälschten Wahlergebnis. Heute heißt es nur: Geht! Das ist etwas grundlegend Neues, eine Unterbrechung.
Sama Maani: Die aktuelle revolutionäre Bewegung strebt eine Korrektur der Geschichte an. Bereits von 1905 bis 1911 erkämpften Iranerinnen und Iraner eine demokratische Verfassung mit bürgerlichen Grundrechten. Die Konstitutionelle Revolution war gegen die absolutistische Monarchie der Kadscharen-Dynastie gerichtet. De jure galt die erkämpfte Verfassung sogar bis 1979 – auch wenn die beiden Monarchen der ab 1925 folgenden Pahlevi-Dynastie, abgesehen von einer demokratischen Phase zwischen 1941 und 1953, de facto diktatorisch herrschten. Die Konstitutionelle Revolution war durch eine relative Säkularität und Liberalität, die Zuwendung zur westlichen Moderne und die wichtige Rolle der Frauen geprägt. Darauf reagierte eine religiöse Gegenbewegung um den Kleriker Fazlollah Nuri, auf die sich dann später auch Ruhollah Chomeini, der Führer der Islamischen Revolution, berief. Die aktuelle Protestbewegung will nun die Emanzipation der Gesellschaft von Religion fortführen, die 1905 begonnen und 1979 unterbrochen worden war.
In welchem Zusammenhang stehen die aktuellen Proteste mit grundlegenden Trends in der iranischen Gesellschaft?
Hakakian: Seit jeher insistiere ich: Der Iran ist mehr als das islamistische Regime, und die iranische Gesellschaft kann nicht auf das Religiöse und den Islam reduziert werden. Regelmäßig wurden mir eine verzerrte Wahrnehmung und Wunschdenken vorgeworfen. Nun aber ist es mehr als deutlich: Die Theokratie hat viele Iraner:innen in Säkulare verwandelt.
Maani: Hier möchte ich einhaken. 2020 hat die Universität Tilburg in einer repräsentativen Onlinestudie 40.000 Iraner:innen anonym nach ihren religiösen Überzeugungen gefragt. Demnach identifizieren sich nur 40 Prozent als Muslime und sogar nur 30 Prozent als Schiiten. Das ist ein wichtiger Befund. Denn da der schiitische Islam die ideologische Basis des Gottesstaates Iran bildet, verweist die Umfrage auf die massive Entfremdung zwischen der iranischen Gesellschaft und dem islamischen Regime.
Herr Maani, ihr 2021 veröffentlichter Roman „Žižek in Teheran“ handelt von einer fiktiven Frauenrevolution. Haben Sie reale Proteste von dieser politischen Radikalität für möglich gehalten?
Maani: In ihrer überwiegenden Mehrheit lehnen die über 80 Millionen Iraner:innen die Islamische Republik ab. Gleichzeitig gibt es aber hunderttausende Regime-Anhänger, die an die Ideologie der islamischen Herrscher glauben und auch bereit sind, für diesen ihren Glauben zu töten und zu sterben. Zum Teil sind sie als Basidschi oder Revolutionsgarden bis an die Zähne bewaffnet, gut organisiert und willens, Proteste brutal niederzuschlagen. Diese Kräfte standen dem Schah 1978/79 nicht zur Verfügung. Dass nun aber so viele Menschen bereit sind, für eine emanzipatorische politische Sache auf die Straße zu gehen und dabei auch ihr Leben zu riskieren – damit hatte ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet.
Wie ordnen Sie den zentralen, inzwischen weltweit bekannten Slogan der Proteste, „Frau, Leben, Freiheit“, ein?
Hakakian: Für mich ist das ein Echo und eine Antwort auf die Grundidee der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“.
Maani: Mir ist es wichtig zu betonen, dass die Parole aus dem syrischen Kurdistan stammt. Inzwischen wird sie überall im Iran skandiert: sowohl in den großen Städten wie Teheran als auch in entlegenen Gebieten, an Universitäten wie an Schulen. Wir begegnen hier einer noch nie dagewesenen Solidarität zwischen den verschiedenen Ethnien im Vielvölkerstaat Iran.
Hakakian: Auch ich möchte die starke Beteiligung von Belutsch:innen und Kurd:innen hervorheben. Dazu kommt die Kontinuität der Proteste. Das ist historisch einmalig. So gab es nicht einmal 1979 vier Monate lang fast Tag und Nacht Proteste und Demonstrationen. Allerdings sind 2009, bei den Demonstrationen gegen den Wahlbetrug, Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Aktuell sind wir allerdings noch bei unter 5 Prozent der Gesamtbevölkerung.
Das öffentliche und ikonische Abnehmen von Kopftüchern gab es bereits bei den Protesten von 2017/18 und 2019.
Maani: Ja – aber dass die Kopftücher nun massenhaft abgenommen und sogar verbrannt werden, ist neuartig. Es unterstreicht den radikalen, feministischen Charakter dieser Revolution.
Hakakian: Um den Bogen zum Ausland zu spannen – ich bin begeistert, dass nun auch Linke und Liberale im Westen stärker anzuerkennen scheinen, dass das Thema Hidschab verschiedene Implikationen hat. Wer sich in den westlichen demokratischen Ländern für das Recht muslimischer Frauen positioniert, den Hidschab zu tragen, kann diese Wahlfreiheit nicht anderswo negieren. Nur geht es im Iran um die Freiheit von religiösen Restriktionen wie dem Hidschab-Zwang.
Auffällig ist das starke Echo, das die Proteste in der iranischen Diaspora ausgelöst haben. Ist das ebenfalls neu?
Hakakian: Die Diaspora besteht aus Linken, Royalisten, Anhängern der konservativen Volksmudschahedin und auch Iraner:innen, die sich mit keiner dieser Strömungen identifizieren. Dazu kommen noch die Regimetreuen, von denen manche als Spione gegen die Opposition aktiv sind. Trotz dieser politischen Heterogenität ist die Unterstützung der Proteste in der Tat sehr stark und in diesem Ausmaß auch neuartig. Siehe etwa die große Demonstration in Berlin oder am Europäischen Parlament in Straßburg für die Listung der Revolutionsgarden als Terrororganisation. Zentral für eine Weiterentwicklung der Proteste auch im Ausland wäre eine identifizierbare Führung.
Sehen Sie eine solche entstehen?
Hakakian: Ich beobachte Bemühungen. Die sind allerdings zu langsam, um mit den Entwicklungen im Iran Schritt zu halten. Es gibt eine große Diskrepanz, und das ist gefährlich. Denn wenn die Bewegung vor Ort an Aufmerksamkeit verliert und wir im Ausland im Tempo hinterherhinken, geht das Momentum verloren.
Auch jenseits der Diaspora erfahren die Geschehnisse im Iran große Aufmerksamkeit – weit mehr als bei vorigen Protesten. Wie erklären Sie sich das?
Hakakian: 2009 etwa, als, so die ikonischen Bilder, wütende Frauen, in den Tschador gehüllt, ihre Fäuste in die Luft reckten, wurden die Proteste stärker als fremdartig wahrgenommen. Wenn nun ein Teenager den Hidschab abnimmt und anzündet, dann können sich Westler mit dieser Frustration, mit dem Streben danach, eine Wahl haben zu können, besser identifizieren. Insbesondere jetzt, wo hier in den USA die Idee der Wahlfreiheit im Zuge der Debatte um das Abtreibungsrecht so zentral ist. Die Protestierenden im Iran fordern sehr ähnliche Rechte, wie wir sie selbst im eigenen Leben haben oder haben wollen. Universelle Werte können nicht einigen Nationen vorenthalten werden – selbstverständlich auch nicht im Nahen Osten.
Maani: Im deutschen Sprachraum wie auch im übrigen Europa gibt es die Tendenz, den Islam quasi als „Natureigenschaft“ von Menschen aus islamisch geprägten Gesellschaften aufzufassen. Das ist eine relativ neue Entwicklung seit den 1990ern und verstärkt seit 9/11. In der Außenpolitik etwa impliziert das die Vorstellung: Jede grundlegende gesellschaftliche Veränderung in Richtung Frauenrechte oder Demokratie müsse ausschließlich im Rahmen eines reformierten Islam erfolgen. Diese Sichtweise kam den – im Iran längst diskreditierten – systemtreuen Reformern zugute. Die aktuelle Entwicklung vor Ort, aber auch deren Hintergründe sollten uns veranlassen, diese Grundannahme gründlich zu überdenken.
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