Autorin Angelika Klüssendorf: „Die Wahl haben, das war wichtig“
Angelika Klüssendorfs Roman „Jahre später“ seziert das Scheitern einer Ehe. Das hat sie selbst erlebt: Sie war mit „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher verheiratet.
Caputh bei Potsdam, Brandenburg. Angelika Klüssendorf ist erkältet, doch im warmen Café Heimath, direkt an der Fährstation, ist es zu voll. Stattdessen gehen wir in den Bioladen, dort kann man auch Kaffee und Tee trinken, zwischen Gläsern mit Samba-Brotaufstrich und Flaschen voller Apfelmost. An manchen Stellen hat sich das, was mal DDR war, ganz schön verändert. Womit wir schon beim Thema wären.
taz am wochenende: Frau Klüssendorf, wann waren Sie zum letzten Mal in der Kantine der Berliner Volksbühne?
Erst neulich, da habe ich meine Mütze verloren. Es war eine Preisverleihung, und ich sollte die Laudatio halten. Warum fragen Sie?
Weil es dort die DDR noch gibt, es riecht nach ihr und man kann sie schmecken.
Ja, ein Ort, wie eingefroren, aus früherer Zeit. Ein sehr schöner Ort, und man kann dort rauchen.
Ist die DDR Ihre Heimat?
Das würde ich so nicht sagen. Heimat ist für mich, wo ich mich wirklich anwesend fühle, wo ich ich sein kann. Das ist schwierig. Zuletzt habe ich in einem Brandenburger Dorf gelebt und mich sehr wohl gefühlt.
Dann ist Berlin-Brandenburg Ihre Heimat?
Vielleicht. Ich mag die schroffe Landschaft. Und die Menschen. Gerda, die alte Schäferin, und Harro, mein Nachbar, der früh erst seinen Bauch aus der Tür schob und dann seine Erdbeernase, und mir ein „Hallo Geli“ zurief. Und Bipolarchen wohnte gegenüber.
Bipolarchen?
Ja, ein Sachse, wie ich. Als ich in das Haus zog, kam er zu mir herüber mit einem Glas Sekt und stellte sich so vor: Hallo, ich bin Ihr Nachbar, und ich bin bipolar. Inzwischen suche ich wieder nach so einem Haus in Brandenburg. Aus Backsteinen. Wälder und ein See in der Nähe.
Wir nehmen das jetzt mal als Anzeige auf. Momentan wohnen Sie ja auch in Brandenburg, in Caputh. Wussten Sie eigentlich, dass hier, unten am See im Schloss, zu DDR-Zeiten ein Kinderheim war?
Ich habe davon gehört.
Die Frau
1958 in der DDR geboren und aufgewachsen, davon mehrere Jahre im Kinderheim. 1985 flüchtete sie nach Westberlin. In den 90er Jahren war sie mit dem FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher verheiratet, mit dem sie ein gemeinsames Kind hat. Heute lebt sie mit ihrem Mann Torsten Schulz in der Nähe von Potsdam.
Die Trilogie
Ihren literarischen Durchbruch hatte Klüssendorf 2011 mit „Das Mädchen“, das eine schwere Kindheit in der DDR beschreibt. Der Roman war auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, genau wie „April“ (2014), dass die jungen Erwachsenenjahre der gleichen Protagonistin beschreibt. Klüssendorfs aktuelles Werk, „Jahre später“ (KiWi Verlag) handelt von der gescheiterten Ehe Aprils zum selbstverliebten Chirurgen Ludwig. Die Bücher sind fiktiv, aber autobiografisch geprägt.
Ich kenne jemanden, der dort war als Kind. Und an das Kinderheim selbst hat er gute Erinnerungen. Wie war das bei Ihnen?
Für mich war es eine Befreiung von meiner Familie, in ein Kinderheim zu wechseln. Wir waren nur 34 Kinder, ich hatte die Nummer 34, seitdem meine Glückszahl. Es gab sonntags Kuchen, man konnte lesen, ohne gestört zu werden. Und es gab eine junge Erzieherin, die mir sehr geholfen hat. Ihr erzählte ich von meiner Sehnsucht nach meinen Geschwistern und dass ich ausreißen musste, um sie zu sehen.
Die Geschwister?
Als ich neun war, bekam meine Mutter zwei Kinder, kurz hintereinander, und hat sie mir praktisch übergeben. Ich habe mich um sie gekümmert, als wäre ich ihre Mutter. Deshalb bin ich aus dem Kinderheim abgehauen, um sie zu sehen. Ich war damals zwölf und lief die vierzig, fünfzig Kilometer zu Fuß oder fuhr schwarz mit dem Zug, das ging damals ganz unproblematisch.
Die junge Erzieherin wusste Bescheid, dass Sie abhauen?
Sie hat an mich geglaubt, mir vertraut, das war mir ganz wichtig. Fürsprecher sind wichtig. Ich war überrascht, als die Polizei mich für meinen Ausbruch in ein Kindergefängnis steckte. Denn ich hatte mir schließlich nichts Böses vorzuwerfen.
Diese berühmten, mit den kleinen Pritschen, bekannt auch als „Margot Honeckers Kinderknäste“?
Das erste Mal war ich Weihnachten da. Und ich war furchtbar wütend, weil ich für die Sehnsucht nach meinen Geschwistern bestraft wurde. Die haben mich behandelt, wie einen Schwerverbrecher. In dem Raum gab es eine Pritsche und einen Eimer für die Notdurft. Keine Toilette oder Waschbecken. Von draußen ein Guckloch, jeder konnte reinschauen.
Gab es etwas, was Sie in dieser Situation retten konnte?
Da war nichts, gar nichts. Heiligabend bekam ich einen Apfel, aber ich war so wütend, dass ich ihn der Wärterin hinterhergeschmissen habe.
So konnte man auch lernen, die DDR zu hassen.
Meine Wut hat sich auf Personen beschränkt, und ich hasste Ungerechtigkeiten. Aber vielleicht habe ich da schon die Enge empfunden, in einem Land zu sein, aus dem man nicht heraus durfte.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wie muss man jemanden lieben, der als Kind misshandelt wurde?
Gute Frage, schwierige Frage. Diese Menschen haben kein Grundvertrauen. Sie sind misstrauisch. Und erfinden die unmöglichsten Waffen, um den anderen auf die Probe zu stellen oder um herauszufinden, ob sie wirklich gemeint sind. Oder geliebt werden.
Nicht leicht. Sie haben die DDR von sich aus verlassen, 1985, mit Mitte zwanzig. Sie sind nicht von den Ereignissen überrollt worden.
Es war oft mein Weg, abzuhauen, zu gehen, wenn etwas für mich nicht stimmte. Auch als Kind habe ich mir die Freiheit genommen, die Wahl zu haben. Das war wichtig. Wann immer ich konnte, bin ich den Fängen meiner Mutter entschlüpft. Habe mich bei einer Freundin im Kleiderschrank versteckt, in Lauben übernachtet oder, wenn es warm war, im Wald. Der Wald hat mich beruhigt. Vielleicht bin ich deshalb so gern in der Natur.
Und jeden Morgen um sieben sitzen Sie am Schreibtisch.
Dann ist mein Kopf am klarsten. Der Alltag mit seinen Ablenkungen hat sich noch nicht eingeschlichen. In der Frühstückspause lese ich den „Perlentaucher“, danach versuche ich intensiv bis zum späten Mittag zu arbeiten. Dafür gehe ich abends um neun ins Bett – was für meinen Mann, der auch Schriftsteller ist, problematisch ist. Ich lese noch bis elf, während er an seiner Arbeit sitzt. Ich bin eine Lerche, er ist eine Eule.
Sie sind inzwischen wieder verheiratet. In Ihrem aktuellen Buch, „Jahre später“ geht es um das Scheitern einer Beziehung. Wie viel von Ihrer früheren Ehe mit Frank Schirrmacher, dem ehemaligen FAZ-Mitherausgeber und Übervater des deutschen Feuilletons, befindet sich in „Jahre später“?
Der Roman ist auf keinen Fall ein Schlüsselroman. Es geht um die Protagonisten April und Ludwig. Ohne „Das Mädchen“ und „April“ hätte ich diese Fortsetzung nie geschrieben. Mich hat die Perspektive des Mädchens interessiert, das in prekären Verhältnissen groß geworden ist und sich dann in Gesellschaftsschichten bewegt, die ihr fremd sind. Dieser Blick von ihr war mir wichtig.
Sie haben mal gesagt, das dreizehn Prozent des Mädchens aus Angelika Klüssendorf bestehen. Sie nehmen also Teile Ihres Lebens und verdichten Sie zu einer Kunstfigur, zu „April“?
Das mit den dreizehn Prozent habe ich so dahin gesagt, weil mich die Fragen nach der Authentizität meiner Figuren genervt haben. Aber ich weiß, worüber ich schreibe. Eine Autobiografie würde mich nicht interessieren, meine Figuren müssen auf der literarischen Ebene bestehen. Erst wenn sie fiktional auf die Welt gekommen sind, kann ich mit meinem Stoff beginnen. Deshalb verwende ich auch kein „ich“, wie der Liebling des Feuilletons, Knausgård.
Das hört sich jetzt nicht freundlich an.
Was mich vor allem an seinen Büchern stört, sind seine Ressentiments. Die man ruhig haben kann, aber er weiß nichts darüber, sie unterlaufen ihm. Und in seinem Alter sollte man ein wenig über sich Bescheid wissen. Ein typischer Narzisst.
Auch Ludwig in Ihrem Buch ist ein Narzisst. Er sagt zu April: „Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich abstrahlt.“ Wie war es im richtigen Leben mit dem Glanz und Frank Schirrmacher?
Ich habe nie in seinem Glanz gestanden.
Was war er für ein Mensch?
Er war angstfrei, vielleicht auch, weil er die eigentliche Angst, die vor der Auseinandersetzung mit sich selbst, nicht zuließ. Und er wollte das Geschehen bestimmen. Es musste immer etwas los sein, und er war ständig auf der Suche nach Themen, die er setzen konnte.
Und was hat Sie verbunden?
Auf jeden Fall unser regressiver Humor. Mich hat sein kindliches, naives Verhalten angezogen. Die Naivität hat er dann, glaube ich, später verloren, und er hat begonnen, Menschen zu unterschätzen.
Er hat sich ja mit vielen angelegt.
Das hatte auch mit seinem permanenten Erregungsmodus zu tun. Es gab wenige Augenblicke, in denen er es nur mit sich selbst aushielt.
Anstrengend? Oder waren Sie selbst mit in diesem Modus?
Nein, ich glaube nicht. Meine Einsamkeit war mir immer wichtig. Aber trotzdem muss man sich, um erwachsen zu werden dem Leben stellen, sich sichtbar machen – ich glaube, da hat er die Schlachten für mich ausgetragen. Ich war noch zu feige dazu.
Ich habe ungefähr zwei Tage gebraucht, um Ihr Buch zu lesen. Sie mussten dafür lange am Schreibtisch sitzen.
Ja, sehr lange. Zwischen der ersten Fassung und dem gedruckten Buch liegen tausende Seiten, liegen Monate und Jahre. Meine erste Fassung hat nichts mit dem zu tun, das Sie gelesen haben.
Nichts?
Ich versuche, den Text so zu reduzieren, das nur das Wesentliche übrigbleibt. Sonst hätte ich das Gefühl, ich wäre geschwätzig.
Die Besprechungen von „Jahre später“ sind durchweg positiv. Die Süddeutsche Zeitung war voll des Lobes ob Ihres „ironischen Gesellschaftsromans“.
Das ehrt mich. Aber ich weiß gar nicht, ob ich ironiefähig bin … vielleicht ist es mir unterlaufen, das wäre ja schön.
Lesen Sie alle Ihre Besprechungen?
Inzwischen ja. Das gehört zum Erwachsensein dazu. Meistens ruft mich meine Agentin an, und ich ziehe los und lese alles schon zum erstem Mal bei Rewe am Zeitschriftenregal.
Jens Bisky schreibt über Sie, Sie schauten „mit kaltem, menschenfreundlichem Blick auf das, was man sich und anderen antut im Streben nach Glück“.
Ein schöner Satz. Und ich erkenne mich darin wieder.
Ist denn Ihr Blick tatsächlich kalt? Sind Sie kalt?
Keineswegs. Denn wenn der Blick kalt und trotzdem menschenfreundlich ist, ist damit auch eine Genauigkeit verbunden. Ich mag keine Ressentiments. Ich versuche, meine Figuren mit all ihren Abgründen darzustellen, und Abgründe sind immer auch menschlich. Ich habe Sympathie mit jeder meiner Figuren.
Kann man eine Gesellschaft besser beschreiben, wenn man Abstand zu ihr hat – als Ostdeutsche zum Beispiel?
Ich habe mir das Westberlin 1985 erobern müssen. Aber dann war es meins, ganz und gar. Aus dem Lager Marienfelde entlassen, zog ich nach Moabit, und in meinem Haus wohnte die Barfrau aus der Berlinbar, eine Absturzbar, in der man erst lange nach Mitternacht eintrudelte. Durch sie habe ich das Berliner Nachtleben kennengelernt. In dieser Zeit machte ich auch im Metropoltheater das Catering – ich habe Ray Charles das Essen bringen dürfen.
Und dann fiel auch schon die Mauer.
Ich habe mich gefreut, aber die Freude wurde schnell gedämpft. Denn ich habe einige Probleme kommen sehen. In der DDR gab es, außer bei den Ausreiseanträgen, keine Bürokratie. In einem grünen Sozialausweis stand das ganze Leben drin. Schule, Studium, Ausbildung, Arzt, Rente. Alles in einem schmalen Heft. Nach meiner Ausreise musste ich so viele Anträge und Formulare ausfüllen, das mir einmal bei der Unterschrift mein Name nicht mehr einfiel.
Sie betonen jedoch, dass Sie keine Ost-Autorin sind.
Je älter ich werde, desto mehr fühle ich mich als eine. Und Merkel erinnert mich mehr und mehr an Honecker, sie hat keine Ahnung, was in ihrem Land passiert. Immer ist alles gut.
Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Ihre Heldin April der Kanzlerin ähnelt? Ich zitiere: „Sie geht immer weiter. Sie wird unterschätzt. Und sie hat keine Angst vor dem Scheitern, weil sie uneitler ist als die Männer.“
Inzwischen hat sie Angst vorm Scheitern. Ihre Fallhöhe ist zu groß geworden. Und sie ist, wie viele andere Politiker, kompromisslos nur, wenn es um ihre eigene Macht geht.
Die mächtigste Frau der Welt.
Schon zu Lebzeiten ein Monument.
Wenn wir über Frauen sprechen: In der Filmindustrie gibt es die #MeToo-Debatte, braucht man die auch im Literaturbetrieb?
Es ist gut, wenn Leuten wie Weinstein das Handwerk gelegt wird, keine Frage. Es soll und muss sich auch ein anderes Bewusstsein einstellen. Aber ich mache mir doch Sorgen, über junge Studierende, die durch ein Gedicht traumatisiert werden können.
Sie meinen die Debatte über das Gedicht von Eugen Gomringer an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule, das entfernt werden soll.
Ich glaube, das Gedicht muss dafür herhalten, dass sich junge Menschen in einer erfahrungslosen Blase befinden. Sie scheinen nicht zu verstehen, dass sie durch ihre schwarz-weißen Reinigungsfantasien erst muffige Hierarchien schaffen, statt sie zu durchbrechen. Was ich aber weitaus gefährlicher finde, ist, dass die Studierenden durch die Bestätigung der Älteren, des Direktors, glauben, sich in einer produktiven Auseinandersetzung zu befinden.
Sind sie das nicht?
Statt zu lernen, mit Problematiken und Konflikten umzugehen, über das eigene Begehren zu diskutieren, dürfen sie sich im Kuschelzimmer ausheulen. Doch erst die Problematiken verleihen der Kunst die Spannung, die es braucht. Um in einem Bild zu sprechen: Die Studierenden kosten erst gar nicht vom Baum der Erkenntnis, sie ziehen es vor, im Paradies zu verharren.
Halten Sie Romane für eine Möglichkeit, die Welt zu verändern?
Das gibt es sicher. Doch ich habe nicht den Anspruch, die Welt durch meine Bücher besser zumachen. Beim Schreiben spielen die Leser oder die Welt da draußen keine Rolle. Meine persönliche Integrität gilt dem Schreiben selbst.
Zum Abschied noch drei Publikumsfragen, Frau Klüssendorf, ausgehend vom Titel eines Ihrer Bücher, „Amateure“: Wie geht erwachsen werden?
Keine Ahnung.
Wie geht Familie?
Keine Ahnung.
Und wie geht Liebe?
Keine Ahnung.
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