Autor über Faschismus und Klimakrise: „Diese Familie steht für die Verbrennungskrisen der Welt“
In Tommy Wieringas Roman „Nirwana“ geht es um die Verschränkung von Nationalsozialismus und fossiler Energie – am Beispiel einer realen Familie.
taz: Herr Wieringa, in Ihrem Roman geht es um die Zerstörung der Welt. Sie ziehen einen roten Faden von den NS-Verbrechen zu fossilen Brennstoffen. Wie hängen die miteinander zusammen?
Tommy Wieringa: Dem Nationalsozialismus ging es um die Eroberung der Welt, der Rohstoffe, des menschlichen Geistes. Der Nationalsozialismus war eine Eroberungsideologie. Die Eroberung und Ausbeutung der Welt sind seitdem unaufhörlich weitergegangen, in den vergangenen Jahrzehnten unter dem Banner des neoliberalen Kapitalismus. Dieser lässt zwar Raum für den Einzelnen, fügt der Welt jedoch irreparable Schäden zu.
taz: Die Familie, über die Sie geschrieben haben, existiert tatsächlich.
Wieringa: Die Familie, die ich erforscht habe, gehört zu den reichsten der Niederlande. Der Großvater Pieter Schelte war 1942 an der Eroberung der kaukasischen Ölquellen beteiligt. Nach dem Krieg verschwand er nach Venezuela, um für Shell Öl zu fördern. Und 1963 revolutionierte er dann die Offshore-Industrie der Nordsee. Das sind drei zentrale Verbrennungsmomente des letzten Jahrhunderts und er war jedes Mal direkt beteiligt. Seine Söhne haben dann das größte Schiff der Welt gebaut und damit unter anderem die Nord-Stream-Pipeline gelegt. Diese Familie steht stellvertretend für die Verbrennungskrisen der Welt.
taz: Pieter Schelte war ein SS-Untersturmführer. Im Nachhinein hat er sich aus seiner Mitschuld am Nationalsozialismus herausgeredet. In Deutschland sind solche Biografien allgegenwärtig. Wie ist das in den Niederlanden?
Wieringa: Die Niederlande mussten viel an ihrer Vergangenheitsbewältigung arbeiten. Es gab sehr lange den Mythos, dass viele Menschen im Widerstand organisiert waren. Tatsächlich gab es deutlich mehr Menschen, die kollaboriert haben, weil sie dachten, dass durch den Nationalsozialismus ein wirtschaftlicher Aufschwung kommen würde. Viele dieser Kollaborateur*innen wurden nie verurteilt. Wir waren nicht so heldenhaft, wie wir immer denken. In den Niederlanden wurden 100.000 Jüd*innen in die Vernichtungslager deportiert.
So, 16. 11, 11 Uhr, im Rahmen der Indie-Verlage-Messe „Buchlust“ im Literaturhaus Hannover, Sophienstraße 2, 30159 Hannover
taz: Warum haben Sie sich dazu entschieden, diese Geschichte zu fiktionalisieren?
Wieringa: Ich wollte eine Geschichte darüber schreiben, wie das vergangene Jahrhundert die Erde revolutioniert hat. Wir werden so alt und gesund wie nie zuvor, gleichzeitig vernichten wir die Welt und machen sie für unsere Kinder und Enkel unbewohnbar. Ich wollte auch erzählen, warum der Nationalsozialismus so attraktiv für einen jungen Mann wie Pieter Schelte war – in meinem Roman heißt er Wilhelm. Warum er so gerne dazugehören wollte. Die Literatur ist ein ausgezeichnetes Medium dafür: Ich kann in die Köpfe hineinblicken. Und die Rolle vom Feuer in alldem fand ich wunderbar.
taz: Das Feuer steht bei Ihnen sinnbildlich für den Kapitalismus, oder?
Wieringa: Ja. Das Feuer brennt überall. Wir produzieren keinen Bitcoin, kein Auto, kein Brot ohne Feuer. Für alles gibt es einen Verbrennungsprozess. Das Mantra von Trump ist „Drill, baby, drill!“ – es geht ihm um Gas und Öl. Als Bolsonaro an die Macht kam, sah man den Amazonaswald brennen wie nie zuvor. Und auch Putin verdient sein Geld mit Öl und Gas. Kapitalismus, Autokratie und fossile Brennstoffe sind sehr eng miteinander verknüpft. Es gibt keinen Tyrannen mit Wind- und Sonnenenergie. Wenn wir die 1,5 Grad nicht überschreiten wollen, müssen wir die Feuer der Welt löschen.
taz: Hat Kunst diese Verantwortung?
Wieringa: Nein. Der Künstler ist frei. Das ist das Wunderbare an Kunst. Dass ich Kunst, die sich nicht engagiert, nicht interessant finde, ist etwas anderes.
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