Autobiografisches Buch über Missbrauch: Schreiben nach dem Schock
Eine #MeToo-Erzählung: Die Bremer Autorin Jutta Reichelt hat ein so schonungsloses wie wunderbares Buch über sich und ihre Familie geschrieben.

Beim lauten Nachdenken über Literatur ist es selten klug – und nie besonders einfallsreich – mit dem ersten Satz zu beginnen. Aber es lässt sich nun auch nicht vermeiden, dass jeder Gedanke über Jutta Reichelts neues Buch einen wieder zum Anfang führt: „Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt“, lautet der. Besonders drastisch ist diese fundamentale Selbsterkenntnis, weil es sich bei „Mein Leben war nicht, wie es war“ um eine Autobiografie handelt. Und eben eine Untersuchung darüber, warum es die eigentlich gar nicht geben kann.
Im Kern steht dieser Wendepunkt: Als längst erwachsene Frau in ihren Vierzigern realisiert Reichelt, dass sie als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde und bricht zusammen. In einem zähen Prozess beginnt sie Stück für Stück das Bild dessen zu revidieren, was sie bis dahin für eine verhältnismäßig normale Kindheit gehalten hat. Zehn Jahre lang schreibt sie – und sortiert: frühe Ticks und Lebenskrisen, viel zu viel Alkohol und viel zu wenig Vertrauen in sich selbst und in ihre Partnerschaft.
In frühen Therapien und auch in Phasen literarischer Selbstreflexion stößt sie immer wieder an einen sonderbaren Punkt: Viel von dem, was da schiefläuft, würde schon irgendwie Sinn ergeben, wenn sie zum Beispiel traumatisiert wäre oder sowas – aber das ist sie ja nicht. Wovon denn auch?
Schonungslos gegen sich selbst
Die Taten selbst, der Täter, vergebliche Hilfsversuche von außen, aber auch die empathielose Rolle der eigenen Mutter – all das kommt im Buch zur Sprache, ist beklemmend und mitunter erschütternd. Noch nachhaltiger wirkt beim Lesen aber Reichelts Schonungslosigkeit gegenüber sich selbst, den eigenen Schwächen und ihrer Unsicherheit.
Sitzt man ihr heute gegenüber, ist das kaum mehr vorstellbar. Sie strahlt eine nachdenkliche Ruhe aus, die sich ganz sicher auch aus diesem Text speist, der nach einem Jahrzehnt nun endlich fertig ist. Sie spricht auch nicht von Wut, sondern reflektiert Schicht um Schicht, wie sich Wahrheit und Text um ein Paradox drehen: ein falsches Leben geführt zu haben, das aber ja doch ihr Leben ist – und darum eben auch wahr.
Auch wenn „Mein Leben war nicht, wie es war“ als intime subjektive Erschütterung beginnt, kommt so ein Buch schließlich inmitten gesamtgesellschaftlicher Debatten zur Welt: Während Jutta Reichelt schreibt, erschüttert #MeToo den sexistischen Normalbetrieb von Kultur- und Arbeitswelt. Als das Buch schließlich erscheint, diskutiert die Welt über die schweren Vergewaltigungen Gisèle Pelicots, über „ganz normale Männer“ und die falsche Scham der Opfer.
Jutta Reichelt: Mein Leben war nicht, wie es war. Kröner Verlag, 220 S., 25 Euro
Lesung: Mi, 19. 3., 20 Uhr, Buchladen Ostertor, Fehrfeld 60, Bremen
„Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt“: Der Satz ist umso verblüffender, weil Jutta Reichelt der Wahrheit lange vorher dicht auf der Spur war. Ihr Text verhandelt auch, wie ihr vorheriges Schreiben, vor allem aber ihr Lesen, das Thema seit jeher umkreisen: Pierre Bourdieu und die Fallstricke des Biografischen etwa türmen sich in ihren Regalen, aber auch Psycholog:innen und Zeugnisse, eben, traumatischer Erfahrungen.
Tatsächlich stellt Reichelt während der Arbeit nach dem Schock fest, das fast alles längst da ist: in Büchern, Artikeln, Skizzen und Exzerpten, teils gründlich durchgearbeitet und verstanden – nur eben nie im entscheidenden Sinne von ihr auf sich selbst bezogen.
So unfassbar das alles ist, fällt es erstaunlich leicht, über unterschiedlichste Erfahrungen an Reichelts Buch anzuknüpfen. Existenzielle Krisen sind ja nicht auf sexuellen Missbrauch beschränkt. Tatsächlich bekomme sie, erzählt Reichelt, zurzeit viel Rückmeldung von Menschen, die sich auch in ganz anderen Problemlagen verstanden fühlen.
Literatur der Ordnung
Sicherlich schadet es der Lesbarkeit des Buchs nicht, dass eine professionelle Schriftstellerin diese Geschichte erzählt. Die literarische Qualität dieses Textes – und es ist eine hohe – liegt aber weniger im handwerklichen Gebrauch einschlägiger Stilmittel als in der intellektuellen Ordnung, die Text ins brodelnde Chaos bringt. Immerhin geht es um eine Geschichte über Verdrängung, die sich also mit Klauen und Zähnen dagegen wehrt, überhaupt erzählt zu werden.
Nicht wenige dieser Zwänge kommen von außen: politische Fragen um die mediale Überpräsenz von Tätern etwa. Oder ob ein Gewaltakt dem Spannungsaufbau dienen darf. Und als der Missbrauch zum ersten Mal im Text erscheint, fragt schon die Kapitelüberschrift, ob es sich hier wirklich um eine Schlüsselszene handle. Was folgt ist die Geschichte eines dreijährigen Mädchens, das sich panisch dagegen wehrt, mit ihrem Vater allein ins Badezimmer zu gehen. Jahrzehnte später hat Jutta Reichelt über ihren Bruder davon gehört, im Text spricht sie von „seiner Schwester“, mit großem Abstand zum „ich“.
Endlos oft habe sie diesen Text neu sortiert, erzählt Reichelt, Passagen verworfen und andere neu gerahmt. Am Ende steht nun ein schlanker Text, luzide und unmissverständlich – obwohl er gerade die endlosen Verschachtelungen von Erinnerung, Traumata, Gewalt und seelischer Zerrüttung zum Thema hat.
Das Schwergewicht des Themas mag den Blick auf die sprachliche Gewandtheit dieser Erzählung noch ein bisschen verstellen, aber das wird noch kommen. Und bis dahin steht als kleines Happy End die Erfahrung, dass auch Reflexion und Analyse manchmal versöhnen können mit der Welt. Wenn man denn erst so weit gekommen ist, in aller gebotener Widersprüchlichkeit zu akzeptieren: „Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt.“
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