: Das geheime Protokoll
Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 prägt Teile Osteuropas bis heute, während er im Westen eher vergessen ist. Das Museum Berlin-Karlshorst widmet dem Vertrag zweier Massenmörder eine Ausstellung
Von Klaus Hillenbrand
Den Besucher empfängt gleich am Eingang eine wandgroße Landkarte Europas. Daneben liegen weiße Zettel aus. „Hat der Hitler-Stalin-Pakt Ihre Familiengeschichte beeinflusst?“, fragen die Ausstellungsmacher und bitten Besucher, ihre Geschichte zu teilen. Die ausgefüllten Zettel werden auf der Landkarte platziert.
„Meine Familie wurde von den Nazis aus der Ukraine/Sumy verschleppt als Arbeitssklaven und 1942 in Köln begraben“, steht auf einem der Zettel. „Main Vater wurde 1930 in Lettland geboren“, so beginnt ein anderer Besucher seine Geschichte. Die Nazis hätten ihn als „Volksdeutschen“ im besetzten Polen angesiedelt. Dort lernte er seine spätere Ehefrau kennen. 1945 flohen sie in den Spreewald, später lebte die Familie in Niedersachsen.
Ein Besucher hat statt einer Erklärung eine Todesanzeige abgegeben. „Der Hitler-Stalin-Pakt war die Basis für den 2. Weltkrieg, an dessen Ende es für meine Familie so aussah“, steht handschriftlich darüber. Die Anzeige umfasst die Namen von fünf Menschen. Zwei von ihnen überlebten zwar den Krieg, aber unter Verlust eines Beines beziehungsweise eines Auges.
„Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts“ lautet der Titel der Sonderausstellung im Museum Berlin-Karlshorst, dem früheren Deutsch-Russischen Museum. Am 23. August 1939 unterzeichneten das Deutsche Reich und die Sowjetunion einen Nichtangriffsvertrag, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Aufteilung Osteuropas in Interessensphären festhielt. Der Pakt sei mitverantwortlich für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gewesen, betonte die Historikerin Anke Hilbrenner von der Universität Düsseldorf zur Eröffnung der Schau. Tatsächlich ermöglichte der Vertrag den nahezu risikolosen Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939, weil kurz darauf die Rote Armee den Osten Polens angriff. Der Pakt, so Hilbrenner, galt in der Bundesrepublik lange als ein abgeschlossenes Thema.
Im Osten Europas aber war das ganz anders. Denn die Bevölkerung einer ganzen Reihe von Staaten litt noch Jahrzehnte nach dem Krieg an der Folgen dieses deutsch-sowjetischen Vertrags. Er blieb auch nach 1945 für die Grenzziehungen bestimmend.
Die Ausstellung macht an Themensäulen, jeweils einem Land gewidmet, deutlich, was das bis zu Beginn der 1990er Jahre, ja teilweise bis heute bedeutet. Polen, das 1939 in ein deutsches und ein sowjetisches Interessengebiet aufgeteilt wurde, verlor nach 1945 seine Ostgebiete an die Sowjetunion. Die baltischen Staaten wurden von der UdSSR ganz geschluckt, so wie im Vertrag vorgesehen. Teile Finnlands blieben bis heute russisch. Rumänien verlor Bessarabien und weitere Gebiete (auf die Deutschland 1939 verzichtet hatte). Alle diese Staaten – bis auf Finnland – gerieten nach 1945 in den sowjetisch dominierten Block.
So verwundert es nicht, dass die Bewohner dieser Länder die Bedeutung des Pakts ganz anders sehen als die im Westen – er hat schließlich dazu beigetragen, ihre Unterdrückung zu ermöglichen. Die Länderstationen der Schau machen deutlich, wie das vorging: mit manipulierten Wahlen, Verschleppungen von Kritikern nach Sibirien und nackter, brutaler Gewalt.
Im westukrainischen Lwiw, dem früheren Lemberg, hat man jüngst die Strukturen eines Museums zu Ehren der Roten Armee wieder aufgebaut – als Mahnmal. Gedenkstätten und Museen erinnern in vielen Städten Osteuropas an die sowjetische Gewaltherrschaft. Der 23. August gilt heute als europaweiter Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime. Diese vermeintliche Gleichsetzung der NS-Vernichtungspolitik mit der sowjetischen Unterdrückung osteuropäischer Völker stößt wiederum im Westen auf Kritik. In der Bundesrepublik wird der Gedenktag faktisch übergangen – nicht die schlechteste Idee angesichts der Tatsache, dass dieses Gedenken hierzulande leicht als entlastend für deutsche Schuld interpretiert werden könnte. War der Hitler-Stalin-Pakt also die „Basis“ für den Weltkrieg, wie es in der Ausstellung heißt? Trägt die Sowjetunion damit etwa die gleiche Schuld oder eine Mitschuld, wie mancherorts behauptet wird? Diese umstrittenen Fragen werden in Karlshorst nicht eindeutig beantwortet.
Der Krieg gegen die Ukraine hat den Vertrag zurück in die Gegenwart gespült. In Osteuropa fühlt man sich beim Vorgehen Wladimir Putins an Stalins Expansionspolitik erinnert. In Moskau behaupten die Machthaber, dass Stalin dem Pakt nur zugestimmt habe, um Zeit für einen späteren Waffengang gegen Hitler zu gewinnen. Dass er dabei bis zum deutschen Überfall auf die UdSSR 1941 in großem Umfang Material und Rohstoffe an Hitler lieferte, erklärt das nicht. Und dass er über 1.000 deutsche Kommunisten an die Nazis auslieferte, schon gar nicht. Die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls wurde erst nach 1990 zugegeben, inzwischen aber wieder beschwiegen. Schuld am Zweiten Weltkrieg hätten die Westmächte mit ihrer Appeasement-Politik, heißt es im heutigen Russland.
Die Ausstellung wird nicht in Karlshorst bleiben. Als nächste Station ist das westukrainische Czernowitz (Tscherniwzi) vorgesehen – ein passenderer Ort lässt sich kaum finden. Denn dessen Bewohner haben in einem Jahrhundert, so sie nicht einem der zahlreichen Massaker zum Opfer fielen, sechs Herrschaften überlebt, ohne sich vom Fleck zu bewegen: Auf Österreich-Ungarn folgte 1918 Rumänien. Es wurde entsprechend dem Hitler-Stalin-Pakt 1940 von der Sowjetunion abgelöst, bis 1941 Hitlerdeutschland dort an die Macht kam und die jüdische Bevölkerung auslöschte. 1944 kam erneut die UdSSR ans Ruder, bis Czernowitz 1991 Teil der Ukraine wurde. Ein siebtes Reich steht glücklicherweise aus: Ginge es nach Putin, dann wäre die Stadt heute Bestandteil eines großrussischen Staats.
„Riss durch Europa. Die Folgen des Hitler-Stalin-Pakts“. Bis zum 26. 1. 2025, Eintritt frei. Der Katalog erscheint im September
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