Ausstellung und Arrangement: Gefunden und für Kunst befunden

Sind die ästhetischen Arrangements im Hamburger Ernst-Barlach -Haus Kunst? Oder handelt es sich doch nur um gesammelte Steine und Hölzer?

Von der Natur geformt, vom Künstler ausgewählt: Ausstellungsobjekte im Ernst-Barlach-Haus Foto: Andreas Weiss

HAMBURG taz | Sechsunddreißig von Wildschweinen benagte Eichenstümpfe, ein Tableau aus zweiundsechzig trockenen und dornigen Rosenstilen oder 135 Feldsteine aus Südfrankreich, im Ausstellungsraum ausgelegt, an den Fugen des Bodens ausgerichtet, so sieht sie aus, die Kunst von Herman de Vries. Aber sind diese ästhetischen Arrangements im Hamburger Ernst Barlach Haus überhaupt Kunst? Es sind doch nur gefundene Hölzer und gesammelte Steine. Aber sie sind in einem Museum, oft wie Skulpturen auf einem Sockel.

Dennoch sind es nur von der Natur geformte Objekte. Aber sie sind von einem Künstler ausgewählt und signiert. Trotzdem bleiben es bloß Steine und natürlich verwitterte Hölzer. Geraten solche Sachen in den Kunstkontext, gibt es dafür mindestens drei Erklärungen. Erstens könnte argumentiert werden, es ginge gar nicht um Kunst oder Nicht-Kunst, sondern um objekthafte Anlässe für die Wahrnehmung und die Reflexion der Betrachter. Zweitens könnte man mit der Setzungsmacht der Künstler argumentieren: Alles, was ein Künstler macht, ist Kunst – oder muss als Kunst gesehen werden. Drittens aber darf weit in die Kunsttheorie zurückgegangen werden.

Vom Allzeit-Star Michelangelo stammt das Bonmot, in dem von ihm behauenen Brocken Carrara-Marmor sei von Natur aus schon eine Madonna enthalten gewesen, er habe sie nur da heraus geholt. Hinter solchen Überlegungen steht der religiös-philosophisch schwierige Gedanke, dass ein Künstler seit der Renaissance als Schöpfer in Konkurrenz zur Schöpfung selbst tritt, also sich direkt mit der Natur und letztlich mit dem Schöpfergott selbst messen muss.

Seine Aufgabe ist es nicht nur, die Natur perfekt zu imitieren, seine Genialität besteht darin, sie zu übertreffen. Der legendäre Bildhauer Pygmalion erarbeitete eine so perfekte Frau, dass die griechischen Götter sie für ihn lebendig machten: Der Künstler als Schöpfer, zumindest als Produzent im Auftrag der Götter oder des Weltgeistes.

Auch auf der letzten Documenta wurde dieses grundlegende Problem der Kunst thematisiert. Im zentralen „Brain“ fanden sich zwei scheinbar identische große, weiße Flusskiesel von Giuseppe Penone. Einer war eine gefundene plastische Form, der andere eine Kopie des Findlings, bildhauerisch nachgearbeitet aus einem frischen Block Carrara-Marmor. Dieser zweite Stein war als Skulptur eine künstlerische Repräsentation des daneben liegenden – des nur seinen Kontext gewechselt habenden Fundobjekts. Herman de Vries aber geht es nicht um die Repräsentation von Natur.

Als ausgebildeter Gärtner und biologischer Forscher zur Kunst gekommen, tritt der 1931 im niederländischen Alkmaar geborene, im unterfränkischen Eschenau lebende Künstler nicht in die Konkurrenz von Abbild und Abgebildetem ein, sondern lässt die Natur in ihren nahezu unerschöpflichen Formen selbst sprechen. Hatte er sich in den 1950er und 1960er-Jahren mit einer der Zero-Kunst nahestehenden, auf Aleatorik beruhenden, stark reduzierten Kunst befasst, geht es ihm mit einer gewissen Demut und in gesellschaftspolitisch „grüner“ Verortung seit Ende der Siebzigerjahre ausschließlich um Materialien aus der Natur.

„Laufen/sehen/ ich suche nicht/ ich suche nichts// finden.“ So bedichtet er selbst den Weg, wie er zu den Sammlungen und Arrangements kommt. Egal, ob er in der Lagune von Venedig Reste von Lagerfeuern von Fischern, im deutschen Wald abgebrochene Äste oder auf der Kanareninsel La Gomera vom Meer rund gewaschene Vulkansteine findet: beobachten, sammeln, ordnen und der Poesie des Augenblicks vertrauen, das ist seine Methode.

Des Künstlers Aufgabe ist es nicht nur, die Natur zu imitieren, seine Genialität besteht darin, sie zu übertreffen

Die Gleichwertigkeit der Dinge ist ihm dabei so wichtig, dass er sogar glaubt, mit konsequenter Kleinschreibung ihr ein sprachliches Äquivalent zu geben. Mit weißem Vollbart eine fast prophetische Erscheinung, könnte Herman de Vries durchaus die Rolle eines Gurus übernehmen. Zumal wenn der Text zu einem Auflagenobjekt lautet: „Dieser Stein und dieser Holzklotz erleuchten mich.“ Dies ist allerdings eine Referenz an die frühmittelalterliche mönchische Mystik eines Johannes Scottus Eriugena, der in den einfachen Dingen die Selbstoffenbarung Gottes sah.

Dennoch sind dem Naturkünstler Glauben wie Denken eher sekundär. Wichtig ist ihm eine wie auch immer geartete Offenbarung durch individuelle Erfahrung. Dazu gehört auch die Wirkung gewisser Pflanzen, die als Drogen bezeichnet werden, aber durchaus Teil der Natur sind. Und die hoch-ästhetisch arrangierten Naturelemente verweisen zudem auf eine stetig wachsende Entfremdung: Kaum jemand verfügt mehr über das Basiswissen über die uns immer noch umgebende Natur.

Wer kennt schon beim Wandrelief „Die Bäume“ mit seinen auf drei Metern Breite nebeneinander gehängten 21 unterschiedlichen Ästen noch die Namen, das Vorkommen und den Nutzen dieser biologischen Lebensformen? Wenn Kunst ein System ist, die Wahrnehmung zu schulen, so geht es hier vor allem um den Blick auf die Natur. Statt mit Descartes: „Ich denke also bin ich“ hält Herman de Vries es mit „ambulo ergo sum“, „ich wandere, also bin ich“.

Natur als Möglichkeitsraum für schauende Erkenntnis bei stetem Positionswechsel. In solcher Ästhetisierung der Naturwahrnehmung haben seine Arbeiten auch eine Nähe zur Zen-Philosophie: Erinnert sei an die Tradition der Suiseki, der im Studio zwecks Meditation präsentierten Gelehrtensteine, deren Naturformen an Landschaften, an Tiere oder Skulpturen erinnern.

Da auch das künstlerisch Ausgeformte in Material und Gestalt ein „Fundstück“ des Sammlers sein kann, sind auch Skulpturen von Ernst Barlach mit in die Präsentation der 1445 Naturobjekte von Herman de Vries einbezogen. Wie oft im Ernst Barlach Haus ist ein Dialog mit der Sammlung und vor allem der Architektur des 1962 von Werner Kallmorgen gebauten Hauses inszeniert.

So geben hier die nun unverstellten Fenster einen zusätzlichen Kommentar zu den Naturformen von Herman de Vries: Der Ausblick in das Geäst der Bäume im Jenisch Park wird wie ein Landschaftsbild zum Teil der auch in formaler Hinsicht sehr ästhetischen Ausstellung.

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