Ausstellung über Wohnen in der NS-Zeit: Wo die Shoah anfing
Zwangswohnungen für Jüdinnen und Juden sind ein kaum beleuchteter Teil der NS-Zeit. Die digitale Ausstellung „Zwangsräume Berlin“ klärt auf.
In den Jahren 1939 bis 1945 vertrieben die NS-Behörden viele jüdische Mieter*innen aus ihren Wohnungen. Betroffen war über die Hälfte der circa 78.700 jüdische Menschen, die damals noch in Berlin lebten. Grundlage der Zwangsvertreibung war das am 30. April 1939 erlassene „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“. Danach konnten nichtjüdische Vermieter*innen ihren jüdischen Mieter*innen kündigen.
Die Geräumten mussten in sogenannte Zwangswohnungen ziehen, wo sie unter beengten Verhältnissen lebten. Oft mussten sich mehrere Familien eine Wohnung und mehrere Einzelpersonen ein Zimmer teilen. In Berlin gab es mindestens 791 Häuser, in denen zwangsgeräumte Menschen leben mussten, bevor sie meist in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Wenig erforschte Geschichte
Diese Vorgeschichte des Massenmords ist bisher kaum erforscht worden. Da ist es umso verdienstvoller, dass das Aktive Museum Berlin mit der digitalen Ausstellung „Zwangsräume Berlin“ diese antisemitische Massenvertreibung auch für die heute lebenden Menschen erfahrbar macht. In der Ausstellung wird die Geschichte von 32 der über ganz Berlin verstreuten Häuser mit Zwangswohnungen rekonstruiert. Sie sind mit einem blauen Häusersymbol gekennzeichnet.
So erfährt man über die Passauer Straße 5 in Berlin-Charlottenburg, dass zeitweilig 17 zwangsgeräumte jüdische Menschen in dem Gründerzeithaus leben mussten. Darunter war das Ehepaar Eva und Alfons Kemper, die nach ihrer Deportation in Auschwitz und Theresienstadt ermordet wurden. Ein weiterer Bewohner, der Musikstudent Heinz Martin Hagelberg, wurde am 26. Juni 1942 in einem Lager in der Nähe von Minsk Opfer der Shoah.
Sehr akribisch wird in der Ausstellung beschrieben, in welcher Etage und teilweise in welchem Raum die Menschen lebten. Wenn man das Symbol des Eckhauses Skalitzer Straße 108–109/Oranienstraße 206–207 im Stadtteil Kreuzberg anklickt, erfährt man, dass dort im Obergeschoss der Arzt Alfred Max Hohenstein, seine Frau Erna und ihr achtjähriger Sohn leben mussten, bevor sie am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden.
Sehr ausführlich wird auch über die Zwangsräume in der Holsteinischen Straße 2 im Bezirk Charlottenburg berichtet. Dort wohnten zwischen 1942 und 1944 mehrere jüdische Familien. Einige konnten noch auswandern, andere fielen der deutschen Vernichtungsmaschinerie zum Opfer.
Unklar, wer zurückkehren durfte
Die historische Recherche zur Holsteinischen Straße 2 wurde von Gundula Meiering geleistet, die in dem Haus wohnt und über einen Grundbucheintrag von der Geschichte erfahren hat. „Wir werden öfter von aktuellen Bewohner*innen der Häuser kontaktiert, weil sie an die Menschen erinnern wollen, die vor über 80 Jahren dort lebten“, beschreibt Kaspar Nürnberg vom Aktiven Museum Berlin die Reaktion von Menschen, die erfahren mussten, dass die Vorgeschichte der Shoah in dem Haus begonnen hat, in dem sie heute leben.
In der Forschung ist die Zwangsräumung jüdischer Menschen bisher kaum behandelt worden. So ist auch nicht bekannt, wie viele der überlebenden jüdischen Bewohner*innen nach 1945 wieder in ihre alten Wohnungen zurückkehren konnten. „Dabei handelt es sich nur um sehr wenige Fälle“, betont Kaspar Nürnberg. Oft waren die Überlebenden Drohungen ausgesetzt, wenn sie in ihre alten Wohnungen zurückwollten.
Ein besonders drastisches Beispiel ist in der Ausstellung „Der Tod ist ständig unter uns“ dokumentiert, die noch bis zum 24. März in der Topographie des Terrors in Berlin zu sehen ist. Die Shoah-Überlebende Marianne Winter wurde von Bewohner*innen ihrer ehemaligen Wohnung mit den Worten begrüßt. „Wenn die nicht im KZ verreckt ist, verreckt sie hier. Dann schmeißen wir sie die Treppe runter.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist