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Ausstellung über Filmkünstler GrimonprezFetzen des Medien­konsums werden zur vibrierenden Schönheit

Filme des Belgiers Johan Grimonprez oszillieren zwischen freier Kunst, politischem Essay und großem Kino. Das ZKM Karlsruhe zeigt das barocke Werk.

Sieht irgendwie schön aus, so kurz vorm Fall: Videostandbild aus „… because Superglue is forever!!!“ von Johan Grimonprez, 2011 Foto: Johan Grimonprez

Johan Grimonprez hält mit seinen politischen Überzeugungen nicht hinterm Berg. „Geschichte ist, wie Foucault sagte, eine Lüge, auf die wir uns verständigt haben. Es geht darum, Geschichte neu zu schreiben, die Vergangenheit zu überschreiben, um sie für die Gegenwart relevant zu machen.“ Das klingt nach einem guten Plan, den schon andere verfolgt haben. Die Frage ist, wie der Künstler das macht und damit sogar die Kinoleinwand erobert hat.

Er sammelt Fetzen des kollektiven Medienkonsums und macht daraus Filme, deren Schönheit atemberaubend ist. Er weiß um die Faszination bewegter Bilder und wie wichtig der Sound ist. Für ihn ist Filmkunst weder Traumfabrik noch Selbstzweck. Seine Bild- und Soundcollagen dienen der Suche nach einer Wahrheit, die komplexer ist als das, was die Medien bieten. Wie das funktionieren kann, zeigt das Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in der Retrospektive „Johan Grimonprez. All Memory is Theft“.

Das Highlight der Schau ist sein preisgekrönter Film „Soundtrack to a Coup d’État“ von 2024, der Anfang des Jahres in der Kategorie bester Dokumentarfilm für einen Oscar nominiert wurde. Er erzählt von der Ermordung des ersten Präsidenten der Demokratischen Republik Kongo Patrice Lumumba 1961. Damals sandte die US-Regierung Louis Armstrong auf Konzerttournee in das zentralafrikanische Land. Der Jazz als Botschafter der freien Welt? Eine zynische Idee. Die US-Führung sorgte sich nach der Unabhängigkeit des afrikanischen Landes von Belgien vielmehr um seinen Zugang zu Bodenschätzen.

Die Ausstellung

„Johan Grimonprez. All Memory is Theft“. Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, bis 8. Februar 2026

Archivbilder nahtlos aneinandergefügt

Obwohl Grimonprez Archivbilder verschiedener Genres nahtlos aneinandergefügt, bleibt eine lineare Erzählung aus. Diese Leerstelle scheint das Publikum nicht zu stören. In New York laufe der Film bereits seit acht Wochen in den Kinos, sagt der Autor. Sicher, die Sprache des Films sei sehr experimentell. Aber dennoch würden sich die Leute den Film anschauen. Im ZKM läuft er in ganzer Länge. Nebenan ist das zugehörige „Storyboard“ angepinnt: eine wilde Collage aus Texten und Abbildungen auf DIN-A4-Blättern, bearbeitet mit Markern und anderen Stiften.

Grimonprez studierte in Gent und New York Sozialanthropologie, Philosophie und Kunst. Das Werk des 1962 in Belgien geborenen Künstlers vibriert vor Querverweisen auf Literatur, Film- und Mediengeschichte. Er interviewt Wissenschaftler und kommentiert wie in dem Kurzfilm „every day words disappear – Michael Hardt on the politics of love“ das Gespräch mit Kinobildern; in diesem Fall mit Szenen aus Jean-Luc Godards Science-Fiction „Alphaville“ von 1965. Dort sind alle Wörter, die Gefühle ausdrücken, bei Todesstrafe verboten. Über die Einhaltung des Gesetzes wacht ein Supercomputer, der erfreulicherweise am Ende durch die Macht der Poesie zur Strecke gebracht wird.

Gleich zu Beginn der Ausstellung konfrontiert der Meister der surrealen Verschiebung das Publikum mit Videoclips, die noch nicht zu einem Film verdichtet sind. Sie laufen auf historischen Geräten aus den 1960er und 1970er Jahren aus der ZKM-Sammlung antiquierter Medien. Es handelt sich um Material aus seinem „Vlog“, seinem Videoblog. „Das sind kurze Schnipsel, die ich gefunden habe, in der Werbung etwa, die ich sammle, um einen Film daraus zu machen. Es kann jegliches Quellenmaterial sein, Heimvideos, Werbung, politische Sachen.“

Flugzeugentführungen der 1960er und 1970er

Diese disparate Sammlung verarbeitet Grimonprez zu abendfüllenden Filmen. Der internationale Durchbruch gelang ihm mit seinem Film-Essay „Dial H-I-S-T-O-R-Y“, den er 1997 auf der Documenta 10 in Kassel zeigte. Er handelt von Flugzeugentführungen der 1960er und 1970er Jahre. Der Film erzeugt eine ambivalente Wirkung. Die Bilder der Medien schüren zugleich Angst vor terroristischen Angriffen und präsentieren die Entführer als Freiheitskämpfer. Eine sich scheinbar widersprechende Sichtweise, die uns heute unter anderem Vorzeichen in der Berichterstattung über den Krieg in Gaza wieder begegnet. Grimonprez zieht dann eine ganz andere, überraschende Ebene ein: „Wenn Leila Khaled ein Flugzeug entführt, als sie ihre Freunde in Haifa hat sterben sehen, ihr Zuhause verloren hat und in den Libanon fliehen musste, sehen wir ein Moment des Übergangs. Sie entführt ein Flugzeug und erklärt es zum unabhängigen Staat Palästina. Das Flugzeug wird zu einer Zone der Transition.“

Archivbild aus der Collage „All Memory Is Theft“ Foto: Archiv Johan Grimonprez

Für Kurator Philipp Ziegler gehört „Dial H-I-S-T-O-R-Y“ zu den „markantesten Videoarbeiten des 20. Jahrhunderts“. Es habe nahegelegen, mit Grimonprez am ZKM zu arbeiten. Der ehemalige Direktor Peter Weibel habe das schon vorgehabt. „Das breite Denken, die literarischen Bezüge, das enzyklopädische Montieren von Literatur, Philosophie, Politik, Wissenschaft, Filmgeschichte, von Technik und Apparaten, das liegt sehr nah an den Denkprozessen von Peter Weibel.“

Die Schau in Karlsruhe ist eine Art multimediale Einführung in Grimonprezs Arbeit, die auf intellektueller Analyse und einem sechsten Sinn für produktive Bildkollisionen beruht. Seine Motive wie das vom Himmel herabstürzende Haus fesseln den Blick. Dabei handelt es sich nur um einen burlesquen Stummfilm aus den 1920ern. Das Motiv des Absturzes stünde für die Angst vor Kontrollverlust, heißt es in einem Wandtexte. Wenn das so ist, würde sich erklären, warum in der Schau alte TV-Fernbedienungen wie Kostbarkeiten auf Sockeln präsentiert werden. Mit der Lizenz zum Zappen ließ sich der Kalte Krieg, Aufrüstung durch Abschreckung, vom Fernsehsessel aus ganz gut aushalten.

Ist das heute so viel anders? Die Frage steht im Raum und sorgt für Unbehagen. Grimonprez ruft mit jedem Zitat, ob es nun von Don ­DeLillo, Octavio Paz, Jean-Luc Godard, Alfred Hitchcock oder René Magritte stammt, das Publikum zu einer eigenen Sicht der Dinge auf, selbst wenn es um scheinbar banale Dinge geht. Etwa sich das Küssen auf der Straße nicht verbieten zu lassen, wie es die Stadt Sorocaba vorgemacht hat. Die brasilianische Militärregierung soll in den 1980er Jahren ein Kussverbot im öffentlichen Raum erlassen haben. In „kiss-o-drome“ verknüpft Grimonprez die Geschichte mit schwindelerregenden Aufnahmen eines Paartanzes auf Rollschuhen.

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