Ausschreitungen in Israel/Palästina: Heftige Unruhen in Jerusalem
Zwangsräumungen, Anschläge und Ausschreitungen: In Jerusalem eskaliert die Lage. Am Montagmorgen kam es erneut zu Gewalt.
Medienberichten zufolge hatten sich Tausende Palästinenser*innen auf dem Areal versammelt und unter anderem Steine gesammelt. Nach Angaben der israelischen Polizei hätten einige Steine vom Tempelberg auf eine Straße geworfen sowie eine Polizeistellung angegriffen. Daraufhin hätten Polizisten den Tempelberg gestürmt. Polizisten setzten vor der Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg erneut Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschosse ein.
Schon am Wochenende war es zu Gewalt gekommen. Demonstrierende warfen am Samstag Flaschen und Steine auf Polizist*innen. Rund 90 Menschen wurden nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds in der Nacht auf Sonntag verletzt, nachdem am Freitag mehr als 200 Palästinenser*innen und 17 israelische Polizist*innen verletzt worden seien. Am Samstag hatten sich auf dem Tempelberg mehr als 90.000 Muslim*innen zum Ende des Ramadan zum Gebet versammelt.
Wer die Wut in Jerusalem verstehen will, kommt an einem Video nicht vorbei: Der Clip verbreitet sich seit vergangener Woche im Netz. Zu sehen ist ein englischsprachiger Schlagabtausch zwischen einer Palästinenserin und einem israelischen Siedler. Sie: „Jacob, du weißt, dass das nicht dein Haus ist. Du stiehlst mein Haus.“ Er, schulterzuckend und in breitem Amerikanisch: „Ja, aber wenn ich es nicht stehle, wird es jemand anderes stehlen.“
Das Video zeigt den Nahostkonflikt von einer besonders hässlichen, weil extrem lokalen Seite. Es stammt aus dem Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, wo einige Häuser von Siedler*innen besetzt worden sind. Dort droht mehreren palästinensischen Familien eine Zwangsräumung durch israelische Behörden, denn das Land wird von Siedler*innen beansprucht. Diese gehen seit Jahren rechtlich gegen die bisherigen Bewohner*innen vor. Weltweit gibt es Solidaritätsbekundungen mit den Menschen in Sheikh Jarrah.
Hamas-Sprechchöre auf dem Tempelberg
Der Streit befeuert die Spannungen auf dem nahe gelegenen Tempelberg in Jerusalems Altstadt. Aber auch verschiedene Angriffe haben die Spannungen in den vergangenen Tagen verstärkt. Am Freitag hatten Palästinenser*innen das Feuer auf einen israelischen Militärstützpunkt eröffnet. Zwei von ihnen wurden daraufhin erschossen, einer schwer verletzt.
Am Mittwoch war ein israelischer Student aus einer Siedlung im Westjordanland seinen Verletzungen erlegen, nachdem er von einem Palästinenser angeschossen wurde. Ebenfalls am Mittwoch hatten israelische Sicherheitskräfte einen 16-jährigen Palästinenser getötet, der zuvor Molotowcocktails geworfen haben soll.
Extremisten auf beiden Seiten schüren die Spannungen: Am Freitag wurden Flaggen der islamistischen Hamas auf dem Tempelberg geschwenkt. Demonstrierende sollen in Sprechchören zu Raketenangriffen auf Tel Aviv aufgefordert haben. Die Hamas drohte Israel mit Angriffen, sollten die Räumungen in Sheikh Jarrah nicht gestoppt werden. Aus dem Gazastreifen wurde eine Rakete nach Israel geschossen, woraufhin Israels Luftwaffe eine Hamas-Stellung beschoss.
Der ultrarechte israelische Abgeordnete Itamar Ben Gvir, Verbündeter von Ministerpräsident Netanjahu, forderte unterdessen, dass die Polizei mit scharfer Munition gegen Demonstrierende vorgehen solle, statt Gummigeschosse einzusetzen. Israelische Nationalisten dürften am Montag mit einem Flaggenmarsch die Stimmung weiter aufheizen. Sie wollen mit einer Parade durch Ostjerusalem ihrem Anspruch auf die gesamte Stadt Ausdruck verleihen. Erwartet werden Zehntausende Teilnehmer*innen.
Gerichtsentscheid verschoben
Israels Oberstes Gericht will unterdessen doch nicht wie geplant am Montag entscheiden, ob die Familien in Sheikh Jarrah gegen ein früheres Urteil Berufung einlegen können. Während der Stadtteil zunehmend zu einem Symbol für die Vertreibung von Araber*innen aus Jerusalem wird, zieht sich der komplizierte Rechtsstreit in die Länge.
Sheikh Jarrah liegt in Ostjerusalem, das Israel 1967 von Jordanien erobert und 1980 annektiert hat. Ein Gericht hatte entschieden, dass die Grundstücke von vier palästinensischen Familien rechtmäßig jüdischen Familien gehören, da sie vor 1948 im Besitz einer jüdischen Organisation waren. Laut einem Gesetz von 1970 können jüdische Israelis ihren Besitzanspruch auf Grundstücke anmelden, wenn ihre Vorfahren vor dem Krieg 1948 im Besitz des Landes waren. Für Palästinenser, die ihr Eigentum infolge des Kriegs verloren, gibt es kein solches Gesetz.
Jordanien hat sich jüngst in den Fall eingeschaltet, um mithilfe alter Dokumente das Bleiberecht der Familien zu untermauern. Die Häuser seien ursprünglich im Besitz Jordaniens gewesen und an palästinensische Flüchtlinge vermietet worden.
Weltweit haben die Spannungen Reaktionen hervorgerufen. Die Arabischen Emirate und Bahrain, die eine Normalisierung mit Israel anstreben, äußerten Kritik an den israelischen Behörden. Der türkische Präsident bezeichnete Israel gar als „Terrorstaat“.
Aber auch die EU teilte mit, Gewalt und Anstiftung zu Gewalt seien inakzeptabel. Ein Sprecher kritisierte auch die Vertreibung aus Sheikh Jarrah: „Solche Aktionen sind völkerrechtswidrig und dienen nur dazu, Spannungen […] zu schüren.“
Die US-Regierung, die unter Trump die Siedlerbewegung noch aktiv unterstützt hatte, teilte am Sonntag mit, Sicherheitsberater Jake Sullivan habe gegenüber seinem israelischen Kollegen Meir Ben-Shabbat in einem Telefongespräch wiederholt „auch die ernsthaften Bedenken der Vereinigten Staaten über die möglichen Vertreibungen palästinensischer Familien aus aus ihren Häusern im Ortsteil Sheikh Jarrah“ mitgeteilt.
Dieser Artikel wurde zuletzt aktualisiert um 11.40 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Die Wahrheit
Der erste Schnee