Ausschreitungen in Israel: Eskalation mit Ansage
Jerusalem ist ein Pulverfass. Solange Palästinenser*innen dort nicht die vollen Rechte haben, wird es immer wieder zu Gewaltausbrüchen wie den jetzigen kommen.
A m Jerusalemtag, so heißt es unter Israelis, wird die Wiedervereinigung Jerusalems nach dem Sechstagekrieg 1967 gefeiert. Ironischerweise wird immer wieder an eben diesem Tag deutlich: Von Einigkeit kann keine Rede sein. In diesem Jahr ist es besonders klar. Seit Tagen geraten Palästinenser*innen, Israelis und Polizei so heftig aneinander wie schon seit Jahren nicht.
Der Flaggenmarsch, mit dem ultrarechte religiöse Zionisten jedes Jahr am Jerusalemtag durch die Altstadt ziehen und ihre Kontrolle über Ostjerusalem und die Altstadt zelebrieren, ist ein Schlag ins Gesicht der palästinensischen Bevölkerung, von denen sich gerade viele gegen Zwangsräumungen wehren. Es fällt schwer, dabei von Wiedervereinigung zu sprechen, zumal sie völkerrechtlich nicht legal war.
Die Palästinenser*innen und Jüdinnen und Juden leben in Jerusalem noch immer weitgehend getrennt voneinander; nur selten verirren sie sich in die jeweils andere Seite ihres Jerusalems. Kurz: Jerusalem ist keine vereinte Stadt, sondern ein Pulverfass; und der Jerusalemtag ist in erster Linie eine Feier der Eroberung Ostjerusalems. Keiner fragte die Palästinenser*innen, ob sie vereint werden wollen.
Der Jerusalemtag berührt ein in vielen Jüdinnen und Juden tief verankertes Gefühl. Mit dem Tag wird in ihren Augen gefeiert, dass die zweitausend Jahre alte Sehnsucht nach dem gelobten Land, nach Jerusalem, endlich Realität geworden ist. „Jerusalem aus Gold“ heißt ein bekanntes israelisches Lied von Naomi Shemer. Die erste Strophe entstand vor dem Sechstagekrieg. „Der Marktplatz ist leer und niemand besucht den Tempelberg“, heißt es darin. Kurz nach dem Krieg fügte Shemer eine weitere Strophe hinzu: „Wir sind zum Marktplatz zurückgekehrt, und der Shofar (ein traditionelles Musikinstrument) bläst über dem Tempelberg.“
Die Altstadt war nie leer
In Shemers Fantasie, die zu einer Art zweiten Hymne Israels geworden ist, war die Altstadt, bevor die Juden zurückkehrten, leer, und erst die Jüdinnen und Juden erfüllten sie wieder mit Leben. Doch die Altstadt war nie leer; derzeit leben in Jerusalem rund 300.000 Palästinenser*innen. Der Traum vom unbewohnten Land ist mit der Realität nicht zu vereinbaren. In dieser Fantasie, in eine diskriminierende Politik umgesetzt, ist kein Platz für Palästinenser*innen.
Solange dies der Fall ist, solange strukturelle Ungleichheiten ignoriert werden, palästinensische Bewohner*innen von Ostjerusalem nicht die vollen Rechte haben, solange rund 150 Familien, wie derzeit in arabischen Stadtteilen von Zwangsräumung bedroht sind, wird es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge