Ausschreitungen in Ägypten: Die Weltgemeinschaft ist tief besorgt
Die USA appelieren nach der Gewalt in Ägypten an die moralischen und legalen Verpflichtungen der Regierung. Ein Armee-Ultimatum ist in der Nacht ausgelaufen.
KAIRO/NEW YORK ap/dpa | Das von blutiger Gewalt erschütterte Ägypten hat in den Worten von US-Außenminister John Kerry einen „entscheidenden Zeitpunkt“ erreicht. „Vor mehr als zwei Jahren begann (in Ägypten) eine Revolution“, sagte Kerry in einer Erklärung. „Ihr endgültiges Urteil ist noch nicht entschieden, aber es wird für immer davon beeinflusst sein, was jetzt gerade passiert“, mahnte der US-Chefdiplomat. In einem Telefonat mit Übergangsvizepräsident Mohammed ElBaradei brachte er die „tiefe Besorgnis“ der USA zum Ausdruck.
Kerry äußerte sich nach den schweren Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Anhängern des gestürzten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo, bei denen am Samstag mindestens 72 Menschen ums Leben kamen. Die Muslimbruderschaft sprach von weit über 100 Toten. Beide Seiten machten sich gegenseitig für das Blutvergießen verantwortlich.
Die ägyptischen Behörden hätten eine „moralische und legale Verpflichtung, das Recht auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung zu respektieren“, erklärte Kerry. Beide Rechte seien „wesentliche Bestandteile des umfassenden demokratischen Prozesses, den sie (die Behörden) sich öffentlich zu Eigen gemacht haben“. Die andauernde Gewalt in Ägypten behindere die Bemühungen um „Wiederversöhnung und Demokratisierung“ und habe Auswirkungen auf die Stabilität in der Region, sagte Kerry.
Die USA riefen zu einer unabhängigen Untersuchung der jüngsten Ereignisse auf, sagte Kerry weiter. Die politische Führung Ägyptens müsse ihrem Land dabei helfen, „einen Schritt vom Abgrund zurückzugehen“. Kerry sagte, um einen „bedeutsamen politischen Dialog“ führen zu können, seien Teilnehmer aus allen politischen Lagern der ägyptischen Gesellschaft nötig. Die USA riefen erneut dazu auf, inhaftierte politische Führer in Ägypten freizulassen.
„Schutz aller Ägypter“
Die US-Regierung hält bislang an ihrer Sprachregelung zum Umsturz in Ägypten fest und bezeichnet die Absetzung Mursis durch das Militär Anfang Juli nicht als „Putsch“. Die derzeitige rechtliche Regelung sieht vor, jegliche Hilfe an ein Land zu unterlassen, in dem eine gewählte Regierung durch einen Staatsstreich gestürzt wurde. Ägypten hatte von den USA zuletzt Hilfslieferungen im Wert von jährlich 1,5 Milliarden Dollar (etwa 1,1 Milliarden Euro erhalten). Der Löwenanteil kam dem ägyptischen Militär zugute.
Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteilte das Blutvergießen und rief die Übergangsregierung auf, „den Schutz aller Ägypter sicherzustellen“. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton rief ebenfalls zum Gewaltverzicht auf.
Am Abend lief ein Ultimatum des Militärs ab, das den Islamisten gestellt worden war, um sich am sogenannten Versöhnungsprozess zu beteiligen. Andernfalls hatte die Armeeführung eine härtere Gangart angekündigt. Nach Ablauf der Frist waren zunächst keine Maßnahmen der Militärs erkennbar. Im Protest-Camp der Mursi-Anhänger in der Vorstadt Nasr City harrten auch am Sonntagmorgen noch Tausende aus.
In einem Telefongespräch forderte US-Verteidigungsminister Chuck Hagel seinen ägyptischen Kollegen, Armeechef Abdel Fattah al-Sisi, auf, „weiteres Blutvergießen und den Verlust von Leben zu verhindern“.
UN-Chef Ban forderte die ägyptischen Sicherheitskräfte auf, die Menschenrechte zu achten. An die Demonstranten appellierte er, Zurückhaltung zu üben und die friedliche Natur ihres Protests beizubehalten.
Auch Frankreich rief die Armee zur Zurückhaltung auf. „Alles muss getan werden, um eine Gewaltspirale zu vermeiden“, teilte das französische Außenministerium mit. Der britische Außenminister William Hague betonte, es sei jetzt die Zeit „für Dialog und nicht Konfrontation“.
Die Muslimbrüder machten die Sicherheitskräfte für das Blutvergießen verantwortlich. „Sie (die Polizisten) schießen nicht, um zu verwunden, sondern um zu töten“, schrieb Mohammed al-Beltagi, ein Mitglied der Führung der Organisation, auf seiner Facebook-Seite.
„Trick der Muslimburderschaft“
Innenminister Ibrahim sagte hingegen auf einer Pressekonferenz in Kairo: „Es war ein Trick der Muslimbruderschaft, um einen Zwischenfall zu provozieren und Sympathien für sich zu gewinnen.“ Er stellte eine baldige Räumung der islamistischen Protestlager in Aussicht.
Tausende Anhänger der Muslimbrüder campieren in Nasr City seit mehr als drei Wochen. Sie protestieren gegen Mursis Absetzung durch das Militär am 3. Juli.
Die Nationale Rettungsfront von Übergangsvizepräsident ElBaradei brachte in einer Erklärung ihr „tiefstes Bedauern“ über den Tod der Menschen bei den Zusammenstößen zum Ausdruck und forderte eine Untersuchung, wie die Zeitung Al-Ahram berichtete. Zugleich warf sie der Muslimbruderschaft vor, für das Blutvergießen verantwortlich zu sein, da sie ihre Anhänger zur Gewalt angestachelt habe.
Leser*innenkommentare
pit
Gast
Es mag absurd klingen, aber zur Entspannung der derzeitigen Lage in diesem Land fällt mir nur Eines ein: Die einstige Opposition muss sich vor seine ärgsten Gegner stellen, um sie vor dem angedrohten militärischen Abräumen durch die Armee zu beschützen. Dies könnte mindestens zu einem Innehalten aller Beteiligten führen und eine Verschärfung der Situation ausbremsen. Es würde eine Art Schockstarre eintreten, die zur Klarstellung einiger grundlegender Dinge von Seiten der Mursi-Gegner beitragen könnte:
1. Eine Militarisierung des Konfliktes ist nicht erwünscht und muss verhindert werden.
2. Die Armee darf nicht über die Definitionshoheit des Wortes „Demokratie“ verfügen.
3. Die Einladung an Muslimbrüder und Befürworter Mursis, an der Zukunftsgestaltung des Landes teilzunehmen, ist kein bloßes Lippenbekenntnis.
4. Recht und Freiheit sind keine geteilten Güter und gelten auch für den politischen Gegner.
5. Die Religiosität in der Gesellschaft, samt seiner Bedürfnisse und Befindlichkeiten in ihrer Ausübung steht nicht zur Disposition, darf aber auf Grund Ihrer Unterschiedlichkeit keine übergeordnete Rolle bei der politischen Neugestaltung des Landes einnehmen. Eine gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber ist erwünscht und notwendig, um einer Partizipation Aller an einem neuen Ägypten Vorschub zu leisten.
So absurd wie das klingt, sollte es nicht sein dürfen.
In der Hoffnung aus gutes Besinnen
Pit Peter Tirpitz,
Dresden
Gast77
Gast
Die Muslimbrüder sind eine radikale Gemeinschaft, die die Demokratie in Folge einer Revolution fordern, um ihre Macht zu festigen. Sobald sie dieses Ziel erreicht haben, sind sie die ersten, die die Demokratie abschaffen. Radikale Regime haben diesen miesen Trick schon oft angewendet, siehe z.b. den Iran. Das Militär in Ägypten und viele Ägypter haben die Muslimbrüder durchschaut. Radikale wollen selten nur friedlich demonstrieren sondern suchen die Gewalt, da Sie nicht wirklich zum Dialog bzw. Kompromiss bereits sind. Das Ziel von Islamisten ist die Theokratie, daher können Sie sich nie (langfristig) auf laizistische Kompromisse einlassen. Gewalt sorgt für Gegengewalt,die Muslimbrüder sehen sich nun einer Gegenwehr des Militärs und ihrer Landsleute ausgesetzt, die ein radikales, gefährliches Regime auch mit Gewalt bekämpfen wollen. Verstehen kann ich das gut, denn wie sollen sie sich denn sonst gegen diese radikale Gruppe schützen?
Tramp
Gast
"Weltgemeinschaft" - eine schwachsinnige, euphemistische, verlogene Formulierung. Es gibt viele unterschiedliche, ja gegensätzliche Interessengruppen, die sich nicht grün sind, aber keine Gemeinschaft.
grunschi
Gast
Nicht umsonst spricht man bei Al-Sisi vom neuen "Pharao" (Spiegel). Der Leser dieses Artikels sollte sich fragen, warum auschließlich Bürger und Parteiangehörige der MB getötet werden und auf Seiten der Tamarod keine Toten zu verzeichnen sind. Vielleicht weil die Polizei und das Militär sich schützend vor die "Liberalen und Säkularen" stellt? (Rhetorische Frage) Dass jetzt Mursi wegen Verrats angeklagt wird ist eine weitere Farce, wenn doch das ägypt. Militär selbst den Putsch mit der USA ausgehandelt hat.