Ausnahmesportlerin auf dem Pferd: Knochenjob im Sattel
Sibylle Vogt ist die erfolgreichste Frau im deutschen Galopp. In der kräftezehrenden Disziplin lässt die Schweizerin viele Männer hinter sich.
In Hamburg hat Sibylle Vogt wieder einmal viele Männer hinter sich gelassen. Nach der Derbywoche wurde die 28-jährige Schweizerin dort am letzten Wochenende als Champion des Galopp-Meetings ausgezeichnet – mit fünf Siegen und einem zweiten Platz. Als erste Frau überhaupt gelang es ihr, diese Auszeichnung zu gewinnen. Entsprechend glücklich strahlte sie in die Kameras. Die Freude wirkt nach. Es sei eine „super Woche“ gewesen, „ich bin sehr zufrieden“, sagt sie, als sie ein paar Tage später im Kölner Stall Asterblüte, wo sie bei Peter Schiergen als Jockey angestellt ist, zum Interview erscheint.
Aber darf man überhaupt Jockey sagen? Oder besteht sie auf die offizielle weibliche Berufsbezeichnung Jockette? „Nein, auf gar keinen Fall, das klingt ja wie Yogurette“, sagt sie, und die blauen Augen blitzen unter schwarz getuschten Wimpern. „Von mir werden die gleichen Leistungen verlangt wie von den Männern, deshalb will ich auch genauso genannt werden.“
Also Jockey Sibylle Vogt. Den Anforderungen des Berufs entsprechend ist sie sehr schlank, sportlich und drahtig. 50 Kilo Körpergewicht verteilen sich auf eine Größe von 168 Zentimetern. Leistungen bringt sie seit ein paar Jahren regelmäßig, es ist sogar so: Einen derart konstant erfolgreichen, weiblichen Jockey hat es im deutschen Galopp nie zuvor gegeben. Im aktuellen inländischen Jockey-Championat belegt sie den dritten Platz hinter den routinierten Herren Andrasch Starke und Lukas Delozier.
Anders ausgedrückt. Frau Vogt hat sich in einem Männersport durchgesetzt und sich einen Namen gemacht. Andere Sportler würden nun vielleicht sagen, sie lebten ihren Traum, doch davon ist die Schweizerin weit entfernt. Sie träumt nicht, sondern nähert sich den Dingen auf nüchterne Art. „Es waren Zufälle, die mich hier hingebracht haben“, sagte sie. Weder wollte sie unbedingt Jockey werden noch in Deutschland leben. „Es ist halt einfach so gekommen.“
Anfänge in der Schweiz
Sie wuchs in einem Dorf mit 400 Einwohnern namens Leimbach im kleinen Schweizer Kanton Aargau auf. Mit ihren Eltern, einer Schwester und einem Bruder, Pferden und Ponys. Ihr Vater ist Reiter und Jäger, für beide Hobbys begeisterte er seine Tochter Sibylle. Sie lernte von ihm das Reiten, ging später auch auf die Jagd, machte, als sie älter war, sogar ebenfalls einen Jagdschein, den sie auch heute noch besitzt. Vor allem aber begeisterte sie sich dafür, im Jagdgalopp durchs Gelände zu preschen – und war dabei meistens schneller als die anderen. „Bei Fuchsjagden habe ich oft gewonnen“, berichtet sie – und fügt hinzu, dass es sich um reine Reiterwettbewerbe gehandelt habe: „Natürlich wurden keine echten Füchse gehetzt, der schnellste Reiter bekam einen Fuchsschwanz.“
Als sie mit 15 Jahren die Schule abgeschlossen hatte, habe sie nicht so recht gewusst, was sie machen sollte, erzählt sie. Durch die Vermittlung des Reitstalls, in dem sie damals aktiv war, ergab sich – zufällig – die Möglichkeit, sich auf der Schweizer Rennbahn in Avenches um eine Ausbildung zur Rennreiterin zu bewerben, bei Trainer Georg Bocskai, einem früheren Jockey, und dessen Frau Carmen. Vogt wurde angenommen und war sehr froh. „Denn ich musste ja irgendetwas machen“, sagt sie. Bald stellte sich heraus, dass dieses „irgendetwas“ genau das Richtige für sie war. Sie stürzte sich angstfrei in die Wettbewerbe, gewann Rennen und fand Spaß am Gewinnen. Und sie überzeugte ihre Arbeitgeber durch Einsatz und Unerschrockenheit. „Sibylle ist sich für nichts zu schade“, sagte Carmen Bocskai einmal der NZZ. „Sie ist eine, die das Risiko und die Geschwindigkeit liebt.“
In anderen Reitsportdisziplinen, vor allem im Dressur-, aber auch im Spring- und Vielseitigkeitsreiten, sind viele Frauen aktiv und erfolgreich. Jedoch nicht im Galopprennsport. Warum eigentlich nicht? „Weil es wirklich ein Knochenjob ist“, antwortet Vogt. „Es ist sehr zeitaufwendig und körperlich sehr, sehr anstrengend. Du musst für den Sport leben.“ Jockeys stehen in den Rennen im Sattel, sie brauchen dafür sehr viel Kraft in den Beinen und Körperspannung wie ein Turner, müssen immer konzentriert sein und ein gutes Auge für den Rennverlauf haben – bei Geschwindigkeiten von mehr als 60 Stundenkilometern.
Erschwerend für weibliche Jockeys komme hinzu, meint sie, dass manche Trainer „eigentlich keine Frauen auf die Pferde setzen wollen, weil sie sagen, wir sind zu schwach“. Das Vorurteil hat Vogt hinlänglich widerlegt. Die Gewinnsumme, die sie in Deutschland von 2016 bis 2023 ergaloppiert hat, beträgt insgesamt fast 1,7 Millionen Euro.
Sieg unter den weltbesten Jockeys
Sie gewann unter anderem im Jahr 2019 ein erstes Grupperennen, einen Wettbewerb der anspruchsvollsten Kategorie. 2020 trumpfte sie in der saudischen Hauptstadt Riad bei der sogenannten International Jockey Challenge auf; in einem Wettbewerb, in dem sieben der weltbesten Jockeys und ebenso viele weibliche Kolleginnen gegeneinander antraten. Vogt belegte zunächst Rang zwei, doch nachdem der Sieger wegen Dopings disqualifiziert worden war, wurde sie zur Siegerin erklärt.
Aber noch einmal zurück in die Anfangsjahre in der Schweiz, wo Vogts Karriere sich vor 2016 in einer Sackgasse befand, da der Galopprennsport dort keine großen Perspektiven hat. Die Zahl der Rennen ist deutlich kleiner als in Deutschland. Ein Länderwechsel war somit angesagt, Vogt, die sich als sehr heimatverbunden bezeichnet, wollte jedoch keinesfalls umziehen. Sie dachte sogar schon darüber nach, die Rennreiterei wieder aufzugeben.
2016 ging sie dann doch nach Deutschland, zunächst zum Gestüt Röttgen im Kölner Vorort Rath/Heumar. Da sie dort aber wohl nicht so recht vorankam, wechselte sie 2019 nach Iffezheim bei Baden-Baden, wo das Ehepaar Bocskai einen Rennstall übernommen hatte. Das hatte den Vorteil, dass Vogt aufgrund der geografischen Lage verstärkt in Frankreich reiten konnte. Dort erhalten weibliche Jockeys in den meisten Rennen einen Bonus, ihre Pferde dürfen 1,5 Kilogramm weniger tragen als die der männlichen Jockeykollegen. Vogt kämpfte sich Stück für Stück nach vorn und heuerte 2020 bei Schiergen in Köln an. Erst seit der vergangenen Saison ist sie fest in Weidenpesch engagiert und wohnt in Köln.
Schiergen, ebenfalls ein hoch dekorierter Ex-Jockey, sagt über seine Angestellte: „Sibylle hat Härte, sie ist professionell, eine sehr gute Reiterin.“ Und natürlich, auch hier ist sie wieder einmal die Erste, nie zuvor gehörte eine Frau zu Schiergens Stalljockeys, also zu denjenigen Reitern, die für die Rennen gebucht sind und die englischen Vollblüter in der rennfreien Zeit trainieren.
Schwerer Reitunfall
Apropos Härte: Im Juli 2022 begann für Vogt die bisher schwerste Zeit ihrer Karriere. Sie stürzte erst an einem Samstag in Bad Harzburg vom Pferd Anarchist („ein Reitfehler“). Und dann am Sonntag in Mülheim an der Ruhr nach einem Rennen von der Stute Tamarinde. Zwar hatte sie Beschwerden, konnte, wie sie berichtet, im Liegen den Kopf nicht richtig anheben. Sie wollte aber die Zähne zusammenbeißen und weitermachen, hoffte wohl, es würde einfach wieder vergehen. „Ich gehe nicht gern zum Arzt“, sagt sie. Sie ließ sich dann doch durchchecken, zum Glück. Denn es wurde auf den Röntgenbildern eine Fraktur des siebten Halswirbels festgestellt, die ohne Behandlung zu einer Lähmung hätte führen können.
Vier Monate Ruhe verordneten die Ärzte der Reiterin, zwei Monate lang musste sie eine Halskrause tragen – und durfte absolut nichts Sportliches unternehmen. Kein Radfahren, kein Joggen – nichts. Für einen aktiven Menschen eine böse Strafe. „Der Tag hatte auf einmal so viele Stunden und ging nicht vorbei“, berichtet sie. Abends habe sie nicht schlafen können, da sie nicht müde war, morgens nicht aufstehen wollen. Als es schließlich überstanden war und sie im November ihr Comeback geben durfte, sei sie nur happy gewesen. „Angst hatte ich nicht“, erklärt sie. Langsam tastete sie sich an die alte Form heran. Nachdem sie mit dem Start in die Saison 2023 noch unzufrieden war, läuft es im Sommer nun wieder sehr gut – siehe Hamburg.
Auf ihrer Wunschliste für die nähere Zukunft steht der Sieg im deutschen Jockey-Championat. „Ein Gruppe-1-Rennen würde ich natürlich auch gern einmal gewinnen“, fügt sie hinzu, das wäre ein Erfolg in der Kategorie der Galopp-Champions-League. Wie es in ihrer Karriere mittel- bis langfristig weitergehen soll, wie viele Jahre sie sich ihren geliebten Knochenjob noch antun will – über all das will Sibylle Vogt nicht viel nachdenken, denn das bewährte Motto lautet: „Ich lasse es auf mich zukommen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin