Auslandsreisen als Insta-Story: Wir sind alle Opa Walter
Der Nachbar aus dem Südhessischen klärte bei Reisen die Daheimgebliebenen gerne über Land und Leute auf. Manche Politiker erinnern mich an ihn.
D ie österreichische Jugendstaatssekretärin Claudia Plakolm besuchte dieses Woche ein Beet. Österreichische Medien berichteten, mit Foto.
Normalerweise interessiert ein Beet-Besuch auch die Medien des charmanten Nachbarlands nicht so sehr. Dass ein solcher zur Schlagzeile wird, dafür muss schon ein prominenterer Beet-Besucher her, etwa King Charles auf einer seiner Rhabarber- und Kohlrabi-Biogemüse-Sightseeingtouren oder andere prominente Leute vom Fach.
Das von der Jugendstaatssekretärin besuchte Beet war nur aus einem Grund interessant: Es befindet sich auf einem Dach in Brooklyn, New York City.
Die Beet-Besichtigung war zwar nur ein einstündiger Programmpunkt auf einer längeren US-Reise der Politikerin, aber da die Reise sich ungünstig überschnitt mit Reisen von gleich acht weiteren Regierungsmitgliedern, wurde sie zum Berichtsgegenstand: Was hätte die Jugendstaatssekretärin in einer Stunde nicht alles für Österreich tun können statt diesen überflüssigen Brooklyn-Beet-Besuch zu absolvieren? In etwa so sollte Volkes Zorn gegen die da oben entfacht und der Kauf der Zeitung und ihre Verbreitung unterstützt werden.
Auslandsaufenthalte von Regierungspolitikern sind so wie deren Kosten für Outfits und Kosmetik stets ein gern genutzter Anlass für den schnellen Diss: Während unsere Kinder hier auf den Schulhöfen vermöbelt und von Impfärzten vergiftet werden, macht sich unsere Regierung ’ne geile Zeit.
Sicher, Reisende sollte man manchmal aufhalten, vor allem wenn es Politiker sind, die das Private mit dem Nützlichen verbinden. Und auch nachfragen sollte man durchaus überkritisch, wie nötig es beispielsweise für die sächsische Landesregierung ist, ganze 443.000 Euro für Auslandsreisen allein im Jahr 2022 auszugeben. Eine der Lehren aus der Pandemie lautete doch, dass Meetings auch im Internet okay sind. Sogar Politologen und Rechtsanwälte waren cool damit, wenn Kinder und Ehefrauen während ihrer TV-Interviews ins Bild liefen oder man während einer gerichtlichen Anhörung die Katzenmaske nicht mehr vom Zoomgesicht wegkriegte.
Was die Reisetätigkeit von Politikern bringt, lässt sich schwer beurteilen. Wäre der „Reisepapst“ Johannes Paul II (127 Länder in 104 Auslandsreisen) besser mal zu Hause geblieben und hätte dort einige seiner schwarzen Schafe zur Verantwortung gezogen, bevor andere herausfanden, dass die ganze Herde Schuld auf sich geladen hatte? Vielleicht wäre es der effektivere Weg gewesen, Werbung für den eigenen Verein zu machen und den Laden am Laufen zu halten. Vielleicht. Vielleicht wären ihm dann aber die zahlenden Mitglieder noch schneller weggelaufen als jetzt.
Immer, wenn ich mir den Instagram-Kanal von Robert Habeck anschaue, wie er da so von seinen Reisen berichtet, muss ich an Opa Walter denken, den Nachbarn im Südhessischen der späten 1970er. Der machte nie Urlaub dort, wo es alle anderen taten, sondern in sogenannten fremden Ländern. Opa Walter fuhr da aber nicht einfach zu seinem Vergnügen hin. Seine Reisen waren immer mit der Mission verbunden, die Daheimgebliebenen über Land, Leute und Probleme aufzuklären. Man hat sich oft über Opa Walter lustig gemacht, den ja viele in Deutschland als Nachbarn oder Familienmitglied hatten und haben. Heute sind wir alle Opa Walter. Aus jedem Kaugummi auf der Windschutzscheibe unseres Mietautos im Urlaubsland wird ’ne Insta-Story über Klimawandel.
Ein Beet-Besuch einer Jugendstaatssekretärin geht also völlig in Ordnung. Wäre halt cool, sie würde in ihrer Insta-Story den Jugendlichen neben coolen Beeten auch coole Schnitzelbratereien empfehlen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?