Ausländische Wissenschaftler in Dresden: Mikroskop gegen Misanthrop
Shady Sayed forscht über Krebs. Kaum eine Stadt zieht so viele internationale Wissenschaftler an wie die Hauptstadt von Pegida. Wie geht das zusammen?
Am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen promoviert Shady Sayed über Mutationen, die Krebs auslösen. 2014 zog der Ägypter für seinen Master von Kairo an die Elbe – im selben Jahr, in dem Pegida mit Demonstrationen begann. Wenn Rechte gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ auf die Straße ziehen, wenn sie „Ausländer raus!“ schreien, dann meinen sie auch Menschen wie Sayed. 2015 waren es bis zu 25.000, die bei Pegida mitliefen. CNN und New York Times berichteten, schrieben von fremdenfeindlichen Protesten, derentwegen ausländische Wissenschaftler nicht mehr nach Dresden kommen wollten. Kanada warnte vor Reisen nach Ostdeutschland, und der Leipziger Polizeichef Bernd Merbitz sprach von Pogromstimmung.
Dennoch hat sich die Zahl ausländischer Wissenschaftler an der TU Dresden von 2014 bis 2018 fast verdoppelt. In keinem Bundesland außer Berlin war im vergangenen Jahr der Anteil von Studierenden aus dem Ausland höher als in Sachsen. Was zieht sie an – und wie sehen sie die Stadt heute?
Sayed schiebt eine Tür auf und öffnet eine graue Box. Darin steht ein Delta Vision – der Ferrari unter den Mikroskopen. Sayed schaltet den Bildschirm ein. „Das Tollste an Wissenschaft ist für mich, dass es keine Grenzen gibt“, sagt er später, und es klingt nicht mal kitschig. Vor Kurzem hat er seine bislang größte Entdeckung gemacht: eine noch unbekannte Proteinmutation, die wahrscheinlich zu Krebs führt. Begeistert zeigt er die Aufnahmen von den Zellen. Manche erinnern an Galaxien im All: Grün, blau und rot leuchten sie vor tiefem Schwarz. Einen ganzen Tag hat Sayed hier verbracht, um die schönsten Bilder herauszusuchen.
Sayed, der Krebszellen-Forscher
Sayed beschreibt sich selbst als Perfektionisten und Problemlöser. Schon in Ägypten hatte er von der Exzellenzuni gehört. Die Ausbildung in Dresden heißt für ihn eine enge Betreuung und neue Netzwerke, ein Stipendium und internationales Renommee. Kurz: eine Karrierechance. Wenn sich die Zukunft verändert, dann auch wegen Forschung aus Dresden. Von hier stammen neue Therapien gegen Krebs, in Dresden hat Sayeds Betreuer eine Genschere entwickelt, die HI-Viren aus infizierten Zellen schneiden kann. Mehr als 30 renommierte Institute sitzen in der Landeshauptstadt. Aus der Krebsforschung sind es gleich vier, die auch vom Deutschen Krebsforschungszentrum gefördert werden. Das Mikroskop, mit dem Sayed arbeitet, kostet so viel wie ein Einfamilienhaus – 300.000 Euro. Für ihre Forschung erhielt allein die medizinische Fakultät 2018 rund 120 Millionen Euro.
Hans Müller-Steinhagen, Rektor der TU
Das ist auch Hans Müller-Steinhagen zu verdanken. Wer den Rektor der TU besucht, wird vor dem Verwaltungsgebäude von drei bunten Flaggen empfangen: „Weltoffen, exzellent und visionär“ steht auf ihnen geschrieben. Müller-Steinhagens Motto zeigt ein Bild vor seinem Büro, einen stilisierten Turm, die Spitze leuchtet vor grauem Grund: „Aufwärts“ von Peter Albert. Mit Müller-Steinhagen ist die TU im Juli zum zweiten Mal als Exzellenzuniversität anerkannt worden, als einzige in Ostdeutschland.
Müller-Steinhagen, schlichter Anzug und randlose Brille, kam vor neun Jahren nach Dresden. Der Schwabe schwärmt für Sachsen. Mit leuchtenden Augen erzählt er von Schlössern im Umland und dem Bier, das die Uni seit Kurzem braut. Müller-Steinhagen hat die TU mit allen renommierten Forschungsinstituten der Stadt vernetzt. Im größten Verband, Dresden Concept, sind fast 30 Institute vertreten. Wenn Wissenschaftler aus dem Ausland kommen, kümmert sich ein eigenes Welcome Center um ihre Betreuung, vom Kitaplatz bis zum Behördengang. Bald soll es die erste Außenstelle des Deutschen Krebsforschungszentrums in Dresden geben, auch hier ist die TU mit im Boot. Müller-Steinhagen spricht vom „Wir-Gefühl“ an der TU, von Pioniergeist und „Dresden Spirit“, von der Uni als großer Familie, in der man auch mal streiten kann. Im Ausland wirbt er damit, dass Dresden Bildungsniveau mit Lebensqualität vereint, und das bei niedrigen Preisen. Seit er im Amt ist, habe er 300 neue Professorinnen und Professoren gewonnen. Der Ausländeranteil an der TU Dresden ist seit 2014 jedes Jahr weiter gestiegen.
Müller-Steinhagen, der Optimist
Dass rechts motivierte Straftaten in Sachsen im letzten Jahr doppelt so oft geschehen sind wie im Bundesdurchschnitt, das sagt Müller-Steinhagen nicht. 2018 zählten Opferberatungen über 300 rechte und rassistische Vorfälle – fast 40 Prozent mehr als im Vorjahr. Müller-Steinhagen windet sich, wenn man ihn nach dem offensichtlichen Rechtsruck fragt. „Schauen Sie die Umfrageergebnisse aus den letzten drei Jahren an – da ging doch vieles rauf und wieder runter. Gleichzeitig ist die ganze Gesellschaft heute doch viel entspannter als vor 30 oder 40 Jahren. Es herrscht eine ganz andere Lebensfreude in Deutschland.“ Nach Pegida frage ihn im Ausland kaum noch jemand.
2015 hat sich Müller-Steinhagen mit einem Plakat ablichten lassen, darauf hatte er sich klar von Pegida distanziert. Im selben Jahr nahm die TU Geflüchtete in ihren Turnhallen auf. Im Juni dieses Jahres hat die Uni einen Appell veröffentlicht: ein Plädoyer für Demokratie und Weltoffenheit. Gegen die AfD aber kann oder will sich Müller-Steinhagen dann doch nicht aussprechen. Er redet von breiten Spektren, die es in jeder Partei gebe. Auch in Neuseeland und Kanada seien ihm schon einige Male Menschen ironisch mit dem Hitlergruß entgegengekommen. Und seine Schwiegertochter, eine Inderin, fahre immer gern nach Dresden. Schließlich sagt er: „Wenn sich größere Kräfte gegen Internationalisierung richten, ist das für eine Uni immer schlecht.“
Ob er sich keine Sorgen macht, wie es weitergeht, sollte die AfD am Ende doch in Regierungsverantwortung kommen? Müller-Steinhagen stockt kurz. „Wenn die AfD tatsächlich an die Regierung käme, müsste die TU Dresden nach Möglichkeiten suchen, auch in diesem politischen Umfeld ihren erfolgreichen Kurs beizubehalten. Die TU Dresden hat schon viele gesellschaftliche Brüche überlebt. Und sie wird sich auch weiterhin positiv entwickeln.“
An der TU gibt es dazu auch deutlichere Stimmen. Als die Medizinische Fakultät mit einer Flagge damit warb, dass dort 73 Nationen gemeinsam forschen, bekam ihr Dekan Heinz Reichmann Drohbriefe. Nach den Wahlen werde man sich daran erinnern, wer eine „Umerziehung“ verdiene, hieß es in dem Schreiben. Trotzdem oder gerade deswegen hat Reichman nun Plakate aufhängen lassen, die sich vor den Landtagswahlen für eine freie Kultur ohne Vorbehalte aussprechen. „Unser Statement richtet sich auch gegen Teile der AfD, wie den Flügel“, sagt Reichmann. Auch er wägt ab: Er sei überzeugt, dass es in der AfD auch Menschen gebe, die ganz normal ticken. „Aber wir wollen zu keiner Zweiklassenmedizin kommen, wo wir sagen sollen: Germans first. Wir Ärzte mussten doch auch schwören, dass wir alle Menschen gleichbehandeln.“
Die Studenten und ihre Begegnungen mit Rassismen
An der medizinischen Fakultät gibt es feste Ansprechpartner, die sich darum kümmern, wenn jemand diskriminiert oder bedroht wird. Nachdem Pegida 2015 einen Höhepunkt erreichte, ließ das Max-Planck-Institut eine eigene Notfallhotline für Mitarbeiter aus dem Ausland einrichten. Vergangenes Jahr wurde sie vom Freistaat Sachsen übernommen. Bislang gab es nur wenige Anrufe. Im Welcome Center sagt eine Mitarbeiterin: „Mir gegenüber wurde nur selten über Rassismuserfahrungen gesprochen, was aber sicher daran liegt, dass sie sich hier zunächst als Wissenschaftler sehen.“
Sedef Köseer, Krebsforscherin
Spricht man auf dem Campus ein paar Menschen an, kann fast jeder Nichtweiße von einem Vorfall berichten. Die Spanne ist breit: Mal sind es „nur“ Hitlergrüße oder finstere Blicke, mal ein „Deutschland den Deutschen“ oder Schweinelaute, die einem Muslim hinterhergegrunzt werden. Aber auch Schläge und Bedrohungen sind dabei. „Mir ist mal ein Mann mit einem Messer entgegengelaufen und hat mich beschimpft. Ein Freund von mir ist dann dazwischengegangen“, erzählt ein Student. Er überlege schon manchmal, nach Afghanistan zurückzukehren. Auch ein Wissenschaftler aus dem Libanon und einer aus dem Jemen möchten zurück – zu oft fühlen sie sich nicht willkommen, manchmal auch nicht sicher. Eine Frau aus Indien berichtet dagegen, ihr sei nie etwas passiert. Wenn Rechte aufmarschieren, gebe ihre Dozentin allen Ausländern per Mail Bescheid. Dann bleibe sie einfach zu Hause.
Auch Shady Sayed sagt, er habe noch nie Probleme gehabt. „Vielleicht hatte ich Glück.“ Sayed fährt gern ins Umland, nach Görlitz oder Pillnitz. Im Alltag muss er den Mikrokosmos Campus nur zum Squashspielen verlassen – er lebt nur wenige Minuten von seinem Institut entfernt. Auf Partys der wissenschaftlichen Community seien rechte Meinungen selten. „Wenn ich doch mal jemanden treffe, versuche ich einfach zu zeigen: Ich bin ganz normal.“ Sayed ist ein Klassensprechertyp, auch unter Stress hört er anderen zu.
Der Rechtsruck wie Krebs bekämpfen
Den Rechtsruck in Deutschland sieht Sayed ähnlich wie den Krebs: als Krankheit, die Menschen überall auf der Welt befällt. Und die man am besten mit Wissenschaft heilt. „Wir haben vielleicht unterschiedliche Kulturen, beten zu unterschiedlichen Göttern, aber am Ende glauben wir doch alle an Lösungen“, meint Sayed. Er will Rechte mit Ratio besiegen – die Ruhe der Labore gegen das Gezeter auf den Straßen. Seit drei Jahren engagiert er sich bei „Science goes to school“. In Schulen rund um Dresden erklärt er, wie Genetik funktioniert. Für manche Schüler sei es das erste Mal, dass sie einen Araber treffen. „Das ist doch der beste Weg, um Vorurteile abzubauen.“
Später sitzt er mit Kollegen in der Mensa, vielleicht Deutschlands einziger, die den Gästen weiße Tischdecken gönnt. Über Lasagne debattieren sie, darüber, welche Molche und Fische Verletzungen am besten wegstecken und wo sich der nächste Forschungsaufenthalt im Ausland lohnt. Am Tisch sitzen sechs Leute aus fünf verschiedenen Ländern. Dass sie ihre eigene Sprache haben, liegt nicht nur daran, dass alle Englisch sprechen. Auf dem Campus entstehen Freundschaften an Mikroskopen: In Dresden hat Sayed seine besten Freunde am Institut und in der Uni getroffen. Er sagt, er sei hier zu Hause. „Für mich ist das kein Ort, sondern ein Gefühl. Ein Seelenzustand.“
Wie Shady Sayed lebt auch Sedef Köseer nur wenige Minuten vom Medizin-Campus entfernt. Für 142 Euro im Monat wohnt die 26-jährige Türkin in einem Gästehaus des Uniklinikums. In ihrem Labor öffnet sie einen Inkubator und präsentiert „meine Babys“. Tausende von Kopf- und Nackenkrebszellen, gelagert bei Körpertemperatur. Köseer, schwarze Jeans und schwarzes T-Shirt, darüber ein weißer Laborkittel, promoviert am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen über Krebsbekämpfung, nur ein paar Hundert Meter von Shady Sayeds Labor entfernt.
Köseer, die Wissenschaftlerin in der Frauenkirche
Erst im Juni ist Köseer von Ankara nach Dresden gezogen. Freunde, die schon hier waren, hatten ihr von dem Rechtsruck erzählt. Für sie selbst entschied das Fachliche. Köseers Betreuerinnen sind Koryphäen auf ihrem Gebiet und auch im Ausland bekannt. Um Köseers Stelle hatten sich über 100 Personen beworben.
In Deutschland seien ihr zuerst die Schrebergärten aufgefallen. „Irgendwann möchte ich selbst einen haben“, sagt sie. Nur einmal hat sie bislang eine schlechte Erfahrung gemacht. Als sie bei einem Behördenbesuch nur Englisch spricht, werden ihr die Unterlagen wütend auf den Tisch geknallt. Auch um solche Probleme zu vermeiden, möchte sie schnell ihr Deutsch verbessern. „Ich will einfach niemandem einen Anlass geben.“
Köseer ist nicht traditionell religiös. Sie glaubt: „Mit einem Kopftuch oder einer dunkleren Haut würde es sicher schwieriger.“ Köseer, aufgewachsen im liberalen Istanbul, denkt, dass sich die Stimmung mit der Zeit beruhigen wird. „Wahrscheinlich sind viele hier einfach noch nicht an Ausländer gewöhnt.“
Sie reckt den Arm hoch und schaufelt Eis aus einer Truhe, so hoch wie sie selbst. Dann steckt sie kleine Röhrchen hinein, wie Blumen ragen sie heraus. Mit mehr als hundert Pipettenhüben und 5.000 Touren in der Zentrifuge trennt sie ihre Krebszellen von der Nährlösung. Dann werden sie eingefroren – das bedeutet erst einmal Pause. Köseer will heute die Dresdner Frauenkirche besuchen. Oft arbeitet sie so lange, bis ihre Kollegen sie ermahnen, nach Hause zu gehen. Sie habe keine Ärztin sein wollen, weil ihr das Leiden der Patienten zu nahegehe. „Ich wollte nie etwas anderes tun, als zu forschen.“ Und in der Türkei werde Wissenschaft momentan eher als Luxusgut betrachtet. Wenn Köseer spricht, dann meistens ernst und überlegt.
In der Frauenkirche drängen sich die Touristen. Erhobene Handys, ehrfürchtiges Raunen. Köseer streift durch die Gänge, ihr Blick hängt an der pastellfarbenen Decke. „Vielleicht liegt es daran, dass die Laborarbeit so viel Geduld erfordert. Aber ich glaube, ich wäre sehr wütend, wenn ich diese Kirche aufgebaut hätte und eine einzige Bombe sie zerstört.“ Köseer ist es wichtig, die Geschichte ihrer Stadt zu kennen. Vor Kurzem hat sie das Dresdener Panorama besucht, das die Zerstörung der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt. Seither fühle sie sich der Stadt näher. „Ich kann jetzt ein bisschen besser verstehen, wenn ältere Leute so wütend sind.“ Wenn auch die jüngeren wütend werden, schiebt sie es auf globale Entwicklungen, einen weltweiten Rechtsruck.
Weder Köseer noch Sayed wollen über die politische Situation in ihren Heimatländern sprechen. Von der Lage in Deutschland wüssten sie wenig, sagen sie. Auf ihre Art haben alle eine Antwort auf den Hass gefunden: Shady Sayed die Wissenschaft, Hans Müller-Steinhagen den Optimismus, Sedef Köseer die Empathie. Wie Sayed und Köseer kommen viele internationale Wissenschaftler aus Ländern mit ganz eigener Geschichte. Aus der Ukraine, wo seit Jahren Krieg herrscht, aus Brasilien, wo Präsident Bolsonaro im Wahlkampf „die größten Säuberungen“ ankündigte, oder aus den USA, wo ein Präsident Bürger mit Ratten vergleicht. Ihre Biografien erstrecken sich über Kontinente, nun teilen sie sich die Stadt mit Menschen, die aus Dörfern im Umland zu Pegida fahren. Vielleicht sind manche einfach müde, sich über Politik in Deutschland Sorgen zu machen. Wenn es hier hart auf hart käme, irgendwann, könnten sie einfach weiterziehen.
Shady Sayed beschreibt seine Pläne in Dresden so: „Für den Moment ist die Zukunft hier.“
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