Ausgang für Risikogruppen: Kein Stubenarrest für Heimbewohner
Heime gelten als ganz besonders gefährdet durch Corona. Einsperren dürfen sie ihre Bewohner trotzdem nicht, auch wenn einzelne das wohl versuchen.
Der Haken daran: Die Einrichtung wird gar nicht von akut gefährdeten Pflegebedürftigen bewohnt, sondern von jungen Erwachsenen. Mittlerweile haben sich Bewohner und Angehörige erfolgreich gegen die rigide Ausgangssperre gewehrt. Dass der Name ihrer Einrichtung in der Zeitung genannt wird, möchten sie deshalb nicht. Man wird ja noch ein Weilchen mit der Heimleitung auskommen müssen. Aber es dürfte wohl nicht die einzige Einrichtung sein, in der es Konflikte dieser Art gibt. Viele Heime und Wohngruppen bewegen sich da gerade auf schwankendem Grund.
Wörtlich steht in der Verfügung des zuständigen Gesundheitsamtes, die wiederum auf den entsprechenden Weisungen des niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung beruht: „Die Betreiberinnen und Betreiber der o. g. Einrichtungen sind aufgefordert, die Bewohnerinnen und Bewohner anzuhalten, die Einrichtungen und das dazugehörige Außengelände nicht zu verlassen.“
Das ist deshalb so schwammig formuliert, weil viel mehr als Appelle rechtlich gar nicht drin sind: Denn natürlich gelten auch für Menschen in Heimen oder Einrichtungen des betreuten Wohnens die gleichen Freiheitsrechte wie für jeden anderen Menschen. Ein Haus- oder Zimmerarrest lässt sich nicht einfach so anordnen, schon gar nicht per Hausordnung. Das erklärt auch das Ministerium auf Nachfrage. Um Menschen einzuschließen, benötigt man immer noch einen richterlichen Beschluss oder eben eine Quarantäne-Anordnung des Gesundheitsamtes, die aber nur bei einer Infektion oder einem begründeten Verdachtsfall möglich und dann auch zeitlich befristet ist.
Panikreaktion nach Corona-Ausbruch in Wolfsburger Heim
Entstanden ist die Weisung, nachdem das Land durch die ersten schweren Ketteninfektionen in Pflegeheimen aufgeschreckt worden war. Vor allem der Ausbruch im Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg, wo mittlerweile über 40 Bewohner verstorben sind, sorgte dafür, dass der Krisenstab im Sozialministerium die Regeln noch einmal erheblich verschärfte. Weil es Berichte gab, dass das Besuchs- und Betretungsverbot dadurch unterlaufen wurde, dass sich die Bewohner draußen mit ihren Angehörigen trafen, sollten nun auch die Ausgänge eingeschränkt werden.
Denn, auch das hatte die Erfahrung in Wolfsburg und in anderen Heimen gezeigt, wenn das Virus erst einmal eingeschleppt worden ist, wird es schwer beherrschbar. Das Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass ein Drittel der Coronatoten in Deutschland in Heimen sterben.
Als Einrichtung im Sinne dieses Erlassen gelten allerdings nicht nur Pflegeheime. Er betrifft auch Behinderte oder Einrichtungen zur Wiedereingliederung für psychisch Kranke.
Und da wird es eben schwierig: „Es ist natürlich etwas komplett anderes, ob wir hier über schwer Pflegebedürftige reden oder über Menschen mit einer Beeinträchtigung, die möglicherweise auch noch einen hohen Bewegungsdrang haben“, sagt Holger Stolz, Geschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen. Als einer der größten Träger in diesem Bereich steht die Lebenshilfe nun vor der Aufgabe, für jede einzelne Einrichtung nach handhabbaren Lösungen zu suchen.
Dass sich Anfragen aus diesem Bereich häufen, bestätigt auch die Medizinethikerin Dr. Julia Inthorn vom Zentrum für Gesundheitsethik der evangelischen Landeskirche in Hannover: „Anfangs ging es ja vor allem um die Extremsituationen: Was ist, wenn wir tatsächlich in eine Situation geraten, die eine Triage notwendig macht? Das ist glücklicherweise abgewendet worden. Dann ging es um die Situation in Palliativstationen und ähnlichen Einrichtungen, die plötzlich neue Patienten aufnehmen mussten, weil die nach einem Klinikaufenthalt nicht zurück in ihre Heime durften. Jetzt kommen wir allmählich beim Heimalltag an, also da, wo man sich fragen muss: Wie organisieren wir uns denn nun?“
Hier seien pragmatische und lebenspraktische Lösungen gefragt, findet sie. Und viele Pflegeeinrichtungen entwickeln die auch, sofern sie die Ressourcen dazu haben. In vielen Bereichen wären allerdings bessere demokratische Beteiligungsstrukturen wünschenswert.
Die Kapazitäten und Fähigkeiten, solche Lösungen zu entwickeln, sind allerdings unterschiedlich verteilt, sagt ein Insider aus der Heimaufsicht. Das hängt zum einen daran, wie gut die personelle Ausstattung ist, zum anderen aber auch daran, wie gut der Draht zu den örtlichen Aufsichtsbehörden ist. Große Träger sind hier oft im Vorteil, sagt er.
Heimbetreiber fürchten Ermittlungen
Bei manchem Betreiber regiert wohl auch einfach die Angst. Immerhin häufen sich die Meldungen über Heime, gegen die Ermittlungen eingeleitet werden, weil der Verdacht besteht, sie hätten bei einem Corona-Ausbruch die Auflagen und Vorschriften des Gesundheitsamtes nicht schnell oder sorgsam genug umgesetzt.
Der Grundkonflikt zwischen dem Wunsch nach Rechtssicherheit und klaren Regelungen einerseits und andererseits der Notwendigkeit, passende Regelungen für jede einzelne Einrichtung zu finden, wird sich nie ganz auflösen lassen, glaubt der Lebenshilfe-Landesgeschäftsführer Stolz. Dazu seien die Voraussetzungen einfach zu unterschiedlich – im Hinblick auf die Anfälligkeit für das Virus genauso wie im Hinblick auf die Einsichtsfähigkeit der Betroffenen. Und die aktuellen Lockerungen machen es nicht leichter. „Ich werde dauernd gefragt, wann die Werkstätten endlich wieder aufmachen“, seufzt er. Aber das wird wohl noch eine ganze Weile dauern.
Bei den Neuregelungen der vergangenen Woche hat Niedersachsen allerdings überraschend eine Lockerung der Besuchsregelungen möglich gemacht – Bedingung ist aber, dass die Heime ein umfassendes Hygienekonzept vorlegen, Besuche auf wenige Angehörige beschränken und den Kontakt unter den Heimbewohner ebenso einschränken. Daran, wie das umzusetzen ist, tüfteln die meisten noch.
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