Ausbeutung von Migranten: Azubis im Bordell
Vietnamesische Frauen, die über Ausbildungsagenturen nach Berlin kommen, landen in der Prostitution. Wieso? Eine Spurensuche, die bei Facebook beginnt.

Nachdem die taz einen Artikel über vietnamesische Auszubildende veröffentlicht hatte, die nicht selten in Ausbeutungsverhältnissen landen, meldete sich Ngoc sich in der Redaktion. Die Misere sei noch viel schlimmer als beschrieben, sagt er und lädt die taz zu einer gemeinsamen Internetrecherche in sein Büro. Es zeigt sich: Ein Teil der Frauen, die von Berliner Unternehmen als Auszubildende aus Vietnam angeworben werden, landen offenbar in der Prostitution.
Zwischen zwei und zehn solcher Angebote von Frauen erhält Ngoc nach eigenen Angaben, wenn er auf Facebook aktiv ist – pro Tag. Nun sucht er gezielt nach diesen Seiten, um sie der taz zu präsentieren. „Hübsches Mädchen aus Deutschland“ steht auf einer Anzeige. Nachdem Ngoc sie anklickt, erscheint das Foto einer Asiatin, eine Telefonnummer und der Hinweis, dass das Angebot in Berlin gelte. Die Frau, vielleicht Mitte 20, hat mehrere Kussmünder im Gesicht. Auch sie erinnert an eine professionelle Sex-Arbeiterin. Eine dritte Anzeige heißt „Full Service von A bis Z. Wir liefern bis vor Ort.“ Dazu ein erotisches Foto. „Geliefert“ werden vietnamesische Auszubildende, heißt es im Text und das sei an mehreren Orten in Deutschland möglich, auch in Berlin. Alle Anzeigen sind in vietnamesischer Sprache verfasst.
Ngoc nennt eine weitere Form der Kontaktaufnahme: Er erhalte über Facebook eine Privatnachricht von einer unbekannten Frau in vietnamesischer Sprache mit einer unverbindlichen Frage, beispielsweise „Wie geht es Dir?“ Wenn er antwortet, erhalte er ein Sexangebot, sagt Ngoc und zeigt so eins.
Druck der Familie
Wieso landen vietnamesische Frauen, die von deutschen Unternehmen zur Ausbildung als Altenpflegerinnen, Kellnerinnen oder Produktionsmitarbeiterinnen eigens aus Vietnam angeworben werden, in der Prostitution? Die taz hat sich auf Spurensuche begeben.
2023 hatten Ethnologen der Freien Universität eine Studie zu neuen vietnamesischen Migranten erstellt. Von Prostitution bei Auszubildenden war da noch nicht die Rede. Wohl aber die klare Ansage: Das Motiv der Männer und Frauen, nach Deutschland zu kommen, war nicht der angebotene Ausbildungsberuf. Das bestand darin, die Familie in Vietnam finanziell zu unterstützen, Geld für sie zu verdienen. Oft waren die Auszubildenden auch nicht selbst motiviert, nach Deutschland zu fahren, sie kamen, weil ihre Großfamilie das von ihnen verlangte.
Diesem Druck kann man sich in Vietnam nur schwer entziehen. In diesem Motiv unterscheiden sie sich nicht von denjenigen Landsleuten, die auf illegalen Wegen nach Deutschland kommen. Der Weg über einen Ausbildungsvertrag, für den man durchschnittlich 12.000 Euro bezahlt – fast immer über Schuldenaufnahme – ist ein wenig preiswerter als der illegale Weg. Vor allem aber ist er bequemer und nicht so riskant. Man muss zuerst knapp ein Jahr lang in Vietnam Deutsch lernen oder ein Deutschzertifikat kaufen und braucht sich anschließend nur in ein Flugzeug zu setzen. Kein gefahrvoller Weg in Kühltransportern über Landesgrenzen oder sogar über das Kriegsgebiet in der Ukraine.
Bei Frauen, die auf illegalen Wegen nach Deutschland gekommen sind, ist der Weg in die Prostitution nicht neu. Das zeigten mehrere Strafprozesse vor dem Berliner Landgericht in den vergangenen Jahren. Angeklagt waren Bordellbetreiberinnen und ihre Helfer wegen Menschenhandels und Beihilfe zur illegalen Einreise. Verurteilt wurden sie in der Regel aber nur wegen Schwarzarbeit. Denn die Zeugenaussagen der vietnamesischen Prostituierten zeigten, dass sie sich meist freiwillig in dieses Gewerbe begeben hatten. Sie hatten Schlüssel zu den als Massagesalons getarnten Bordellen, hätten jederzeit weglaufen können, konnten Freier ablehnen.
Enttäuschende Ausbildung
Sie taten es nicht, weil sie sich für den Weg nach Deutschland hoch verschuldet hatten und sich Geld als Prostituierte schneller verdienen ließ als im Nagelstudio oder im Restaurant. Über eine Bordellmutter sagte eine Zeugin in einem Prozess während der Coronazeit fast liebevoll, sie habe ihr „geholfen, Geld zu verdienen“. Andere schilderten ihren Weg in die Prostitution vor Gericht als harten, aber hinnehmbaren Lebensabschnitt von einem oder zwei Jahren, durch den man gehen muss, um später ein besseres Leben zu haben.
Sehen das die Auszubildenden aus Vietnam genauso? Warum sahen dann viele die Ausbildung in einem Mangelberuf in Deutschland nicht als Chance, sich hier ein besseres Leben aufzubauen?
Hierfür bietet Ngoc einen Erklärungsansatz: Er zeigt eine 750.000 Mitglieder zählende Facebookgruppe „Ausbildung in Deutschland“. Dort würden gerade die Erfahrungen von Auszubildenden in der Gastronomie ausgetauscht: Es häuften sich die Erfahrungen wie jene, dass ein Gastronomiebetrieb fünf oder sieben Auszubildende aus Vietnam angeworben hat und alle nach knapp einem Jahr entlässt. Begründung: Sie sprächen zu schlecht Deutsch.
Nun sind die deutschen Sprachkenntnisse von einigen vietnamesischen Auszubildenden tatsächlich nicht gut. Doch glaubt man den Angaben in der Facebookgruppe, dann ist das nicht der wahre Kündigungsgrund. Denn derselbe Gastronomiebetrieb warb über dieselbe Agentur in Vietnam postwendend eine ebenso große Gruppe neuer Auszubildender an. Kaum vorstellbar, dass die Agentur sie diesmal sprachlich besser auf die Ausbildung in Deutschland vorbereitete.
Abrutschen in die Illegalität
Warum tut der Ausbildungsbetrieb das? Ngoc nennt die Spekulationen in der Facebookgruppe. Demzufolge enthalten die rund 12.000 Euro, die jeder Auszubildende für die Lehrstelle in Deutschland zahlt, neben den Kosten für Flug und Deutschkurs in Vietnam auch ein reines Honorar für den Vermittler, oft um die 3.000 Euro. Nach vietnamesischem Recht, und das gilt hier, ist das völlig legal. „Es heißt, dass Ausbildungsbetrieb und Vermittlungsagentur sich dieses Geld teilen würden“, sagt Ngoc. Nachprüfen lässt sich das nicht.
Was aber passiert mit den aussortierten Auszubildenden? Nach Vietnam können sie erst zurückkehren, wenn sie die Schulden abgearbeitet und noch etwas dazuverdient haben. Der Weg bis dahin, so Ngoc, sei Schwarzarbeit in vietnamesischen Gastronomiebetrieben, Nagelstudios, Massagesalons oder eben in Bordellen. Wobei in Letzteren das Geld am schnellsten verdient werde.
Die bereits erwähnte Studie der FU zeigt, dass legal eingewanderte Auszubildende auch aufgrund weiterer „vielfältiger, oft unbemerkter Probleme in illegale Aufenthaltsformen rutschen“ können und illustriert das an Fallbeispielen wie dem der 20-jährigen Thuận: Sie hatte in Vietnam 12.000 Euro an die Vermittlungsagentur gezahlt, was Deutschkurs, Flug, Vermittlung eines Ausbildungsplatzes als Altenpflegerin, Unterkunft, Versicherung und Betreuung in Berlin beinhaltete. Sie erwartete ein 15 Quadratmeter großes unmöbliertes Zimmer am Berliner Stadtrand, das sie sich mit einer anderen Person teilen musste. „Nach zwei Wochen musste die Gruppe auf Aufforderung des Vermieters die Wohnung verlassen, weil die Betreuungsperson die Miete nicht bezahlt hatte. Thuận war gezwungen, sich selbstständig eine neue Wohnung zu suchen, heißt es in der Studie. Während dieser Zeit erhielt sie keine Ausbildungsvergütung, denn ohne Wohnsitz durfte sie kein Bankkonto eröffnen. Die bereits bezahlte Betreuungsperson war unauffindbar, die bereits an sie gezahlte Miete erhielt die Frau nicht zurück.
Die Studienautoren weisen darauf hin, dass Agenturen gern mit Betreuungspersonen arbeiten, die kurz zuvor selbst über die Agentur als Auszubildende nach Deutschland kamen und darum noch ihre eigenen Schulden abzahlen müssen, „was oft dazu führt, dass sie ihrerseits unlautere zusätzliche Gebühren erheben“. Ein Kreislauf, der in vielen Fällen Menschen in die Illegalität abgleiten lässt. Und glaubt man der Werbung auf Facebook, mitunter auch in die Prostitution.
Die Polizei will sich aus ermittlungstechnischen Gründen nicht zu „möglichen aktuellen Ermittlungsverfahren“ zur Prostitution durch die genannte Personengruppe äußern. Sexuelle Dienstleistungen implizierten jedoch „nicht zwangsläufig eine Ausbeutungssituation“ und seien damit nicht zwangsläufig Gegenstand polizeilicher Arbeit, so ein Polizeisprecher.
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