Aus der Ukraine zurück nach Berlin: Urlaub vom Krieg
Bis zum Kriegsbeginn lebte unsere Autorin in Berlin. Seitdem berichtet sie für die taz aus der Ukraine. Nun ist sie zurück. Mit welchem Gefühl?
Es ist genau zwei Monate her, dass ich bei Sonnenaufgang diese Straße entlanglief, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack mit den notwendigsten Sachen. Vor mir lag das große Unbekannte. Ich war auf dem Weg in die Ukraine, mein Heimatland, das gerade den Beginn des russischen Großangriffs erlebt hatte. Damals wusste ich nicht, ob ich wieder nach Berlin zurückkäme. Schlimmer noch: Ich wusste nicht, wer ich sein würde bei der Rückkehr in die Stadt, die mein Zuhause geworden ist.
Jetzt blühen auf meinem Balkon schon die ersten Blumen, die ich im Herbst gepflanzt hatte. Aber ich weiß nicht mehr genau, wo die Handtücher liegen, wo die Teelöffel sind, wie man den Herd einschaltet. In den zwei Monaten in Kyjiw hatte ich mehrfach die Wohnung gewechselt und so versucht, mich vor den Angriffen der russischen Armee in Sicherheit zu bringen.
Am ersten Tag in meiner Berliner Wohnung habe ich mich unbewusst bemüht, nicht zu nah am Fenster zu stehen, meinen Ausweis, mein Portemonnaie und das Tourniquet, ein Abbindegerät gegen starke Blutungen, habe ich auch erst mal nicht abgelegt. Erst gegen Abend wurde mir klar, dass ich den ganzen Tag keine Alarmsirenen gehört hatte, an die ich sonst spätestens um diese Zeit gewöhnt war. Hier gibt es keinen Luftalarm, und laute Geräusche von der Straße kann man einfach ignorieren. Aber die Realität, die ich gerade verlassen hatte, brachte sich sofort wieder in Erinnerung.
In der ersten Nacht lag ich lange wach in meinem gemütlichen Bett mit dem weißen Bettlaken. In den zwei vergangenen Monaten hatte ich mich daran gewöhnt, im Schlafsack zu schlafen, meistens auf dem Fußboden und oft nur wenige Stunden zwischen zwei Luftalarm-Sirenen.
In Berlin begann ich den Morgen damit, auf meinem Smartphone die Nachrichtenlage zu checken. In Kyjiw war am Vortag in Folge von Raketenbeschuss ein Mensch gestorben. Zehn Minuten später kam die Meldung, dass es sich dabei um meine Kollegin von Radio Swoboda/Radio Liberty, Wira Hirytsch, handelte. Ich habe sie sehr gut gekannt, die immer freundliche, entgegenkommende Frau. Welch schreckliche Ungerechtigkeit!
Die russische Rakete war genau in ihrer Wohnung eingeschlagen, in die sie erst ein paar Tage zuvor aus der Westukraine zurückgekehrt war. Aber das Schlimmste war, dass die russische Propaganda behauptete, die Rakete habe eine militärische Anlage getroffen …. Ich bin in Berlin, aber ich spüre nicht die Realität dieser Stadt. In meinem Kopf schwirren nur die Nachrichten aus der Ukraine herum.
Danke, Berlin!
In der Berliner U-Bahn und in Bussen, in Läden und auf den Straßen höre ich jetzt überall Menschen Ukrainisch sprechen. Das gab es so früher nicht. Nicht weit von meiner Wohnung entfernt hängt ein großes gelb-blaues Plakat mit der Aufschrift #StandWithUkraine, in der Apotheke werden Spenden für Ukrainer gesammelt, in vielen Fenstern sieht man ukrainische Flaggen, und im Supermarkt steht am Regal für Sonnenblumenöl „Aus den allen bekannten Gründen – wegen des Krieges in der Ukraine – wird nur 1 Flasche pro Familie verkauft“.
Kürzlich traf ich eine Bekannte. Als sie mich sah, umarmte sie mich und fing dann einfach an zu weinen. Sie sagte kein Wort. Das ist mir schon mit anderen Bekannten passiert. Mein Nachbar, ein älterer Herr, begann sofort lebhaft zu winken, als er mich im Eingang sah, und sagte, wie er den Mut der Ukrainer bewundere. Einige meiner Universitätsdozenten, die wussten, dass ich die ganze Zeit über in der Ukraine war, hatten mir immer wieder Nachrichten mit Worten des Beileids und der Unterstützung geschickt. Und jetzt, wo ich wieder in Berlin bin, spüre ich diese Unterstützung auf Schritt und Tritt und bin sehr dankbar dafür.
Obwohl ich mich vor der Rückkehr nach Berlin auch gefürchtet hatte. Als ich in Kyjiw war, habe ich davon erfahren, dass es in Berlin Autokorsos zur Unterstützung Russlands gab, bei denen nicht nur russische und sowjetische Fahnen, sondern auch die Z- und V-Symbole gezeigt wurden. Davor hatte ich am meisten Angst – diese Zeichen auf den Straßen meines geliebten Berlins zu sehen. In meinem Bewusstsein sind sie ein Symbol für ungerechtfertigte Aggression, einen Eroberungskrieg und das Töten von Menschen. Ich wollte Berlin nicht davon besudelt sehen. Besudelt, ja – weil es genau das ist, was in der Ukraine passiert ist.
Im Gebiet um Kyjiw haben russische Soldaten auf alle von ihnen zerstörten Autos, auf jedes Gebäude, jeden Laden, auf Schulen, Kindergärten, Zäune und sogar auf die Häuser friedlicher Menschen diese Zeichen gemalt. Hinter einem dieser Zäune an einem Haus in Butscha habe ich eine erschossene Familie gesehen. Und auch auf einem zerschossenen Evakuierungsauto mit der Aufschrift „Kinder“ haben Russen in Irpin ein „V“ geschmiert. Ebenso an die Wand eines Kellers in einem Kinderferienlager, in dem fünf Männer hingerichtet worden waren.
Ich hoffe sehr, dass ich diese Zeichen nie in Berlin sehen muss, einer Stadt, die durch ihre Geschichte mit anderen todbringenden Symbolen gut vertraut ist. Toleranz gegenüber anderen Meinungen, das ist das eine. Aber den Wunsch derjenigen zu tolerieren, die andere erobern und vernichten wollen, hat mit Meinungsfreiheit nichts zu tun.
Die Freundin aus Russland
Ich habe eine enge Freundin in Berlin. Sie ist Russin. Wir haben uns 2014 kennengelernt, ein halbes Jahr nach der russischen Annexion der Krim. Damals war es ihr auf einer Journalistenkonferenz zunächst sehr unangenehm, mit mir zu sprechen. Aber kaum hatten wir eine Viertelstunde miteinander geredet, saßen wir beide heulend da und haben uns gegenseitig getröstet.
Seitdem ist unsere Freundschaft mit jedem Jahr stärker geworden: Sie hat mich eingeladen, bei einer Veranstaltung mit ihren Studierenden zu sprechen, und ich habe sie um akademischen Rat gebeten. Wir sind zusammen tanzen gegangen und ich habe ihr gezeigt, wie man ukrainischen Borschtsch kocht. Wir waren uns immer einig in unserem Urteil über Putins Ukraine-Politik. Deshalb waren wir uns so nahe, trotz unserer unterschiedlichen Herkunft.
Als der russische Großangriff begann und ich in die Ukraine aufbrach, schickte sie mir regelmäßig Briefe mit Worten der Unterstützung. Aus jeder ihrer Zeilen spürte ich den Schmerz, das Gefühl von Schuld und Scham. Ich weiß, dass sie tagelang nur geweint hat. Es ist für sie unerträglich, zu sehen, was ihr Land meinem antut, aber es steht nicht in ihrer Macht, etwas daran zu ändern. Um wenigstens irgendetwas zu tun, hilft sie jetzt von morgens bis abends ukrainischen Geflüchteten in Berlin – empfängt sie am Hauptbahnhof, begleitet sie, sucht Unterkünfte.
Sie ist sich, wie ich, bewusst, dass das nicht reicht, um die Kluft zwischen Russen und Ukrainern zu verkleinern. Aber sie bemüht sich, alles dafür zu tun, was in ihren Kräften steht, und ich verstehe das. Ein persönliches Treffen mit ihr habe ich jedoch bislang aufgeschoben. Weil ich nicht sicher bin, dass ich die richtigen Worte finde, um ihr meine Gefühle zu erklären.
Wie die Mehrheit der Ukrainer habe auch ich beschlossen, absolut alles, was mit Russland und den Russen zu tun hat, aus meinem Leben zu verbannen. Ich verspüre keinen Hass. Aber ich komme einfach nicht über den Schmerz hinweg, den sie uns zugefügt haben. Die Freundschaft mit meiner Berliner Freundin, einer Russin, werde ich nicht beenden, weil ich weiß, dass sie meinen Schmerz teilt, wie niemand sonst.
Es gibt nur Weiß und Schwarz
Bin ich traumatisiert? Vermutlich ja. Bin ich erschöpft? Selbstverständlich. Bin ich verzweifelt? Auf keinen Fall. Als ich vor zwei Monaten nach Kyjiw aufgebrochen bin, mein angenehmes Berliner Leben aufgegeben habe, habe ich meine Entscheidung nicht angezweifelt. Und bis heute denke ich, dass ich alles richtig gemacht habe. Für mein Umfeld ist das nicht immer leicht zu verstehen. Aber meine Mission ist ganz einfach: Ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich über diesen sinnlosen Krieg erfahren und dass es darin keine Graustufen, sondern nur Weiß und Schwarz gibt.
Als ich diese Zeilen schreibe, kommt noch eine Nachricht über den Tod eines Kollegen, des Kriegsberichterstatters Oleksandr Machow. Wir haben uns im Donbas kennengelernt, wo wir über den Krieg in dieser Region berichteten. Nach Beginn des russischen Großangriffs im Februar hatte er sich freiwillig zur Armee gemeldet. Am 70. Kriegstag starb er bei Kampfhandlungen im Gebiet Charkiw. Damit habe ich in den wenigen Tagen, die ich in Berlin bin, bereits zwei enge Bekannte verloren.
Egal, wohin ich auch fahre, wie hell mir die Sonne ins Gesicht scheinen mag – solange der Krieg nicht beendet ist, werden Schmerz und Angst meine ständigen Begleiter sein. Deshalb verlasse ich Berlin bald wieder in Richtung Ukraine. Denn nur, wenn ich die Ereignisse erkläre und die Geschichten der Menschen erzähle, fühle ich mich zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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