: Aus dem Elephanten-Haus
Was die gutgläubigen Nazis von früher mit empörten Kriegsgegnern um jeden Preis verbindet: das mangelnde Gefühl für das Relative jedes politischen Standpunkts
von KARL HEINZ BOHRER
Der amerikanische Geheimdienst, so wurde kürzlich offenbart, legte nach der deutschen Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941 dem Präsidenten Roosevelt ein Weißbuch über Deutschland vor. In dem Teil, der die deutsche Bevölkerung, ihre Mentalität und ihren Charakter behandelte, hieß es, die Deutschen seien kriegsmüde, ganz im Gegensatz also zu dem, was die Propagandamaschinerie der Nazis verkündete (Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste, Stuttgart 1999, DVA, 448 Seiten, 25 Euro).
Ganz Recht hatte die amerikanische Denkschrift: Die Deutschen – sagen wir genauer: die Nazideutschen – waren keine aggressiven Menschen, sie waren gute Menschen. Gut in dem Sinne, dass sie wünschten, dass das Gute obsiege und das Böse verschwinde, natürlich ohne Krieg. Gemeinhin wünscht der psychisch etwas entwickelte Mensch nicht das Gute, sondern eine Karriere oder eine attraktive Frau. Man muss sich also die Gutheit etwas genauer ausmalen, um das Frösteln zu bekommen.
Der Nationalsozialismus, damit wäre das Bild des Typus zu beginnen, hat nicht damit Erfolg gehabt, dass er den Deutschen den Mord an den Juden, die Welteroberung und den Krieg versprach, sondern ganz im Gegenteil die Idylle. Er hat Ideen von Reinheit, zunächst keineswegs rassische, von Beschütztheit und von Gläubigkeit verbreitet, Ideen, die das einfache Leben versprachen in einer bösen, komplizierten Welt, sozusagen eine Arche Noah, in die sich die deutschen Menschen, die reinen Herzens sind, hineinflüchten sollten, während die Welt da draußen in Dekadenz verfiel.
Wer sich heute „Wochenschau“-Bilder und Fotografien mit Gesichtern der begeisterten Zuschauern, die den Führer grüßen, anschaut, dem fällt angesichts ihres Ausdrucks eine Reihe von emotionellen Qualifizierungen ein. Die wichtigste davon ist: nicht Hysterie, sondern Naivität. Es ist die Naivität, die das erwähnte Frösteln macht, denn man kann unter diesem Begriff eine Reihe psychischer Defizite einreihen: eine Kindlichkeit, die Undifferenziertheit meint, eine Begeisterung, die Mangel an Individualität impliziert, ganz zu schweigen von jenen Eigenschaften, die hier nicht mehr anwesend sind, aber zu einer zivilisierten Gesellschaft gehören: Ironie, Geschmack, aber auch Zivilcourage und vor allem Gefühl für das Relative jedes Standpunkts.
Von den Einwohnern Weimars wird überliefert, dass sie sich anlässlich eines Besuchs Hitlers vor dem „Hotel zum Elephanten“ in Massen versammelten und sich als Grußwort einfallen ließen: „Lieber Führer, komm heraus, aus dem Elephanten-Haus.“ Es waren nicht alle Bewohner Deutschlands Einwohner Weimars. Und nicht alle Einwohner Weimars waren auf dem Platz vor Hitlers Hotel. Aber diejenigen, die dort waren, brachten jene Einfältigkeit bis zur Karikatur zum Ausdruck, die aus den tausenden Gesichtern der Wochenschauen und Fotografien spricht.
Man hat die nationalsozialistische Epoche nicht wirklich verstanden, wenn man nur von ihren Ideologien, und auch nicht, wenn man nur von ihren Verbrechen spricht. Historiker schätzen solche Themen, weil sich damit begrifflich gut hantieren lässt. Und die Öffentlichkeit schätzt sie, weil man damit die Vergangenheit als kriminelle distanzieren kann und die Gegenwart davor zu schützen vermeint, indem man politische und ideologische Auffassungen ähnlicher Art nicht mehr zulässt.
Das Unsägliche am zitierten Ruf an den Führer ist damit nicht erklärt, und doch lässt sich der Kern des Nazismus an ihm erkennen: die Reduktion von extremer Komplexität unserer Welt auf eine überhaupt nicht mehr komplexe. Das moralisch Abstoßende liegt in der Einfältigkeit des angestrebten Guten, in der Abwesenheit aller psychischen Differenz, die im westlichen, östlichen oder südlichen Europa Zivilisation ausmacht. Hier liegt auch der Grund, warum der Deutsche, der das Gute so prinzipiell wünschte, vor der komplexen Welt, die nicht gut ist, Angst entwickelte. Eine Angst, die sich bald in Ablehnung, ja Feindseligkeit verwandelte.
Der gute Deutsche, von dem hier die Rede ist, nahm den Westen und sich selbst gar nicht als Zivilisation wahr, sondern empfand nur ziemlich unartikuliert Westlichkeit als Weltlichkeit, Oberflächlichkeit, Grausamkeit und Arroganz. Der gute Deutsche sympathisierte schon seit langem mit den Kolonialvölkern gegen die Kolonialherren, wobei vornehmlich die Briten im Fokus seiner diffusen moralisierenden Animosität standen. Und die Amerikaner zogen bald gleich. Dass die Franzosen verderbt seien, war ein uralter Topos, der zweifellos die Ideologie des Guten beeinflusst hat.
Das Defizit an Komplexität wird deutlich, wenn man erkennt, dass zivilisatorisch-psychische Werte weder im Selbst- noch im Fremdbild auftauchen. Man hatte unter der Herrschaft des Gutseins und Gut-sein-Wollens kein Gefühl für die geistige, politische und soziale Hierarchie der zivilisierten Welt entwickelt. Man war gänzlich jenseits des Gefühls, dass es in dieser Hierarchie um Werte ging, politische und kulturelle Werte, die den Westen ausmachten und deren sich seine Eliten bis heute bewusst sind. Man besaß nur eins: das Ressentiment. Der Typus des guten Deutschen strotzte vor Ressentiment, und das prädestinierte ihn zum Nazi, zum guten Nazi.
Nun wäre dieses Porträt nichts als eine weitere Erinnerung an eine versunkene Zeit, gäbe es da nicht neuerlich den Verdacht, dass man sehr wohl politische Ansichten und Handlungen schnell ändern kann, offenbar aber nicht sehr tief verankerte Mentalitäten. Es gibt Anlass zu der Einsicht, dass der gute autistische Deutsche als Typus die Nazizeit überlebt hat. Gewiss, in einem veränderten politischen Amalgam, aber immerhin in wesentlichen Zügen, die noch immer erkennbar sind, denn vor dem Hintergrund des nazistischen Gut-sein-Wollens, das sich politisch vor allem im Arche-Noah-Gedanken und der Ablehnung des Westens äußerte, erscheint die immer wieder aufkommende Friedensrede wie auch die Polemik gegen die USA – wohlverstanden nicht als politische Opposition gegen eine als falsch angesehene Politik, die in den USA selbst ganz geläufig ist – eine Wiederholung des deutschen Wegs, voll von dumpferen Ängsten und unklaren Gefühlen, sprich den alten Ressentiments.
Das beginnt schon mit der Idee vom Frieden selbst, die man unterhält. Sie hat eine Vorläuferin in der verquasten Formel, die für mehr als ein Dezennium der Ersatz für Außenpolitik war: dass nämlich vom deutschen Boden niemals mehr Krieg ausgehen dürfe. Wenn man den wahren Grund dieser Banalität erfasst, dann ist es dieser: Moralische Bekenntnisse bezüglich der nazistischen Vergangenheit, die am Ende keiner mehr hören will, sollen die Kontingenz politischen Handelns, also zum Beispiel Krieg, verwischen.
Es ging nicht nur darum, die verschuldeten Kriege von früher zu verdammen, sondern vor allem darum, mögliche Kriege ganz anderer Art in der Zukunft gar nicht mehr zu denken. Das Wort „Frieden“ wurde als Selbstzweck erfunden – unter welchen Umständen auch immer. Man glaubte schon darin allein die Nazivergangenheit gebannt zu sehen, denn diese wurde mit Kriegsbereitschaft assoziiert. Der gute Deutsche der Nazizeit – darin hatte die amerikanische Studie von 1941 durchaus Recht – war kein Warmonger, ganz im Gegenteil, wie man sich überhaupt von der Vorstellung der Deutschen als einem kriegerischen Volk verabschieden sollte. Kriegerisch waren und sind die Briten und war vielleicht das preußische Offizierskorps. Die Deutschen waren es ebenso wenig wie die Österreicher – sie waren während ein oder zwei Epochen militaristisch. Das ist die entscheidende Differenz bis heute: Daher die unpolitisch-irrationale Empörung des deutschen Typus über die Bereitschaft der USA und auch Großbritanniens, unter bestimmten Voraussetzungen Angriffskriege zu führen.
Die französische Distanz zu einem Engagement bei einem Angriff gegen Saddam Hussein ist im Unterschied dazu zugleich machiavellistisch wie auch kulturell motiviert, das heißt politisch. Man hat Wirtschaftsinteressen und eine spezifische, sehr lange kulturelle Verbindung mit den arabischen Völkern. Auch die Kritik an den USA hat eine spezifisch politische, keine fundamentalistische Tradition. Dem entsprechend gibt es in der französischen Bevölkerung auch keine Friedensrhetorik und keine Kriegshysterie.
Eine besondere moralische Delikatesse ergibt sich, wenn die moralisch aufgedresste Empörung über den Krieg der Angelsachsen deren Krieg gegen Nazideutschland erklären soll. Dieser Krieg war die Folge der britischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich, das diesen Krieg zu entgegenkommendsten Bedingungen vermeiden wollte und sich nur in Unkenntnis der kriegerischen Mentalität und Potenz der Engländer hineinmanövrierte.
Den Frieden nicht unter allen Bedingungen zu suchen, sondern Krieg zu führen, wenn notwendig – dass dies ein Ethos sein kann, ist in Nazideutschland nicht verstanden worden und versteht man offensichtlich abermals nicht: So entlarvt sich Moralismus als die Absenz von Ethik. Aus der fundamentalistischen Auffassung des Wortes „Frieden“, die dieses nicht als zivilisatorischen Code, also als funktionale relative Größe nimmt, sondern als eine absolute, quasi metaphysische Kategorie, folgen alle anderen Ideen des erneuerten guten Deutschen unserer Tage: die Idee der Arche Noah, die Romantisierung der ehemaligen Kolonialvölker plus Dritter Welt, die Kulturkritik am Westen. Vor allem aber die Verdächtigung der USA.
Es ist eine besondere Pointe, dass die Nachkommen der Nazis den Erfindern von Demokratie und Machtkontrolle Nachhilfeunterricht in zivilen Tugenden geben wollen. Weit fataler: Es handelt sich bei sehr vielen der namentlich bekannten guten Deutschen von heute nicht nur im metaphorischen Sinne um Nachkommen der Nazis, wie wir alle es sind. Sie sind es vielmehr in einem buchstäblichen Sinne. Dabei ist in unserem Zusammenhang nicht so sehr das Motiv der politischen Korrektheit, die Reinigung vom Makel, Sohn oder Tochter von Kriminellen zu sein, von Belang, sondern etwas Unerquicklicheres: dass sie bei völlig veränderter politischer Ideologie noch immer den gleichen gläubig-moralisierenden, idealistischen, überaus ernst bekennenden Tonfall pflegen.
Hätten die amerikanischen Intellektuellen wie ihre Vorgänger im Jahre 1941 abermals den Auftrag, die derzeitige Mentalität des Typus intern zu charakterisieren, wie würde diese Charakteristik jetzt, sechzig Jahre später, ausfallen?
KARL HEINZ BOHRER, geboren 1932, lebt in Paris. Wir veröffentlichen eine gekürzte Fassung seines Textes „Auf deutschen Wegen“ aus dem von ihm herausgegebenen Merkur
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