Aus Le Monde diplomatique: Der Sumpf von Seoul
In Südkorea hat Korruption an der Staatsspitze Tradition. Die Bevölkerung protestiert und fordert grundlegende Reformen.
Als am 9. Dezember die Suspendierung von Präsidentin Park Geun Hye bekannt wurde, brach unter den zehntausenden Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Seoul Jubel aus. 234 Delegierte – also nicht nur die Opposition – hatten für den Misstrauensantrag gestimmt, 65 dagegen. Auch in anderen großen Städten wie Gwangju, Suncheon, Incheon, Busan oder Jeju verliehen Demonstranten ihrer Genugtuung Ausdruck.
Fast zwei Monate lang waren jeden Samstag landesweit Millionen Menschen auf die Straße gegangen, um mit Kerzen in den Händen den sofortigen Rücktritt der Präsidentin zu fordern. Die Liste der Anschuldigungen gegen sie ist lang: Ihre Regierungsgeschäfte sollen unter dem Einfluss ihrer langjährigen Freundin Choi Soon Sil gestanden haben; zudem soll sie Geld von den großen Familienkonzernen, den Jaebol, erhalten und Regimekritiker unterdrückt haben.
„Es tut mir aufrichtig leid, dass ich mit meiner Nachlässigkeit ein nationales Chaos verursacht habe. Ich werde im Rahmen des gesetzlich vorgesehenen Verfahrens auf die Fragen des Verfassungsgerichts und des Sonderermittlers antworten“, hieß es in der offiziellen Stellungnahme der Präsidentin. Nun haben die neun Verfassungsrichter 180 Tage Zeit, um über die Rechtmäßigkeit der Suspendierung zu entscheiden. Bis dahin übernimmt der Premierminister die Amtsgeschäfte der Präsidentin.
Die sechsmonatige Frist bremst die Entschlossenheit und den Enthusiasmus der Demonstranten nicht. „Ich freue mich auf die Absetzung Parks und schäme mich dafür, sie früher unterstützt zu haben“, sagt der 35-jährige Kim Hye Yung aus Busan im Süden des Landes, der sich den Protesten in der Hauptstadt angeschlossen hat. Saenuri, die konservative Regierungspartei, müsse „zerschlagen werden“.
Die Geister der Vergangenheit
Etwas weniger drastische Worte fand Park Won Soon, der Bürgermeister von Seoul, als er sich nach dem Bekanntwerden der Parlamentsabstimmung an die Demonstranten wandte: „Das Volk hat gesiegt, wir haben gesiegt. Park Geun Hye sollte unverzüglich zurücktreten, anstatt das Urteil des Verfassungsgerichts abzuwarten.“ Park Won Soon hatte sich schon einige Tage zuvor zu Wort gemeldet und betont, man müsse die Geister der Vergangenheit – gemeint war die Familie Park – vertreiben. „Die imperiale Präsidentschaft muss ein Ende haben. Die Jaebols und die Politik müssen von Grund auf erneuert und das Kabinett von Park Geun Hye, das die Interessen des reichsten Prozents der Gesellschaft vertritt, strafrechtlich verfolgt werden.“
Dieser Artikel stammt aus der aktuellen Ausgabe von Le Monde diplomatique, der großen Monatszeitung für internationale Politik. LMd gibt es jeden Monat neu gedruckt und digital sowie zum Anhören. Das komplette Inhaltsverzeichnis der neuesten Ausgabe kann man hier nachlesen: www.monde-diplomatique.de/zeitung.
Nach Auffassung der parlamentarischen Untersuchungskommission, die sich aus Abgeordneten der größten Oppositionspartei Minju und der Gerechtigkeitspartei sowie parteilosen Parlamentariern zusammensetzt, hat Park in mehreren Fällen gegen die Verfassung verstoßen. Alles begann mit der Verhaftung von Choi Soon Sil. Die unter Korruptionsverdacht stehende Freundin der Präsidentin – Tochter eines Sektenführers – besitzt angeblich schamanische Fähigkeiten und soll Park als spirituelle Mentorin gedient haben.
Doch der Skandal, bei dem es anfangs um überlieferte Glaubensvorstellungen und Manipulationsvorwürfe ging, nahm bald eine völlig neue Wendung: Die Ermittler fanden Hinweise darauf, dass Choi auch Einsicht in vertrauliche Regierungsdokumente hatte und sogar die Ernennung von Ministern beeinflusst haben könnte. Mit direkter Hilfe der Präsidentin soll sie zudem mehrere Großkonzerne unter Druck gesetzt haben, damit diese Geld an Chois eigene Stiftungen Mir und K-Sports zahlten. Auch Chois Tochter Chung, die Anfang Januar in Dänemark festgenommen wurde, ist in den Skandal verwickelt. Vom Samsung-Konzern hatte sie ein millionenteures Dressurpferd geschenkt bekommen.
Allein Samsung soll 20 Milliarden südkoreanische Won (umgerechnet 16 Millionen Euro) an Choi gespendet haben, aber auch von Hyundai, dem größten Autobauer des Landes, LG (Elektronik), der SK-Group (Telekommunikation und Energie), Lotte (Nahrungsmittel und Hotellerie) und anderen Unternehmen sollen Gelder geflossen sein. Insgesamt geht es um 50 Firmen und eine Summe von rund 80 Milliarden Won (63 Millionen Euro). Vermutet wird, dass die verurteilten Chefs von sechs Unternehmen wegen dieser Zahlungen bislang ihrer Strafe entgingen. Bei einer Befragung durch die Untersuchungskommission hüllten sich die Chefs der neun größten Konzerne des Landes in Schweigen.
Der Jaebol-Experte und Juraprofessor Kuk Cho von der Seoul National University bringt auf den Punkt, was viele Südkoreaner denken: „Die Jaebol, die sich ihren Angestellten und kleinen Unternehmen gegenüber so skrupellos verhalten, aber großzügig gegenüber Choi Soon Sil und ihrer Tochter sind, sollten bestraft werden.“ Die Anklage gegen Choi, die manchmal als „koreanischer Rasputin“ bezeichnet wird, lautet auf Machtmissbrauch, missbräuchliche Einflussnahme und Korruption. Die Präsidentin wird der Beihilfe verdächtigt, jedoch kann die Staatsanwaltschaft sie nicht rechtlich verfolgen, bevor das Verfassungsgericht sein Urteil gefällt hat und Parks Immunität gegebenenfalls aufgehoben wird.
Bei ihren Untersuchungen zum politischen Skandal um Südkoreas vorläufig entmachtete Präsidentin Park Geun Hye haben Ermittler mit der Befragung des de-facto-Chefs des Mischkonzerns Samsung begonnen. Der derzeitige Vize-Vorsitzende des Smartphone- Marktführers Samsung Electronics, Lee Jae Yong, entschuldigte sich bei der Ankunft am Büro der Sonderstaatsanwalt am Donnerstag, dass sich Samsung „nicht von der besten Seite“ gezeigt habe, wie südkoreanische Sender berichteten. Lee wurde wegen des Verdachts der Bestechung vorgeladen. (dpa)
Wachsendes Gefühl der Ungerechtigkeit
Dieser Skandal hätte jedoch kaum so hohe Wellen geschlagen, gäbe es in der südkoreanischen Bevölkerung nicht bereits seit einigen Jahren ein wachsendes Gefühl der Ungerechtigkeit. Besonders unter jungen Menschen herrscht eine ausgeprägte Ablehnung der politischen Elite und der Jaebol. Die Südkoreaner warfen der Präsidentin und ihrer Saenuri-Partei vor, nichts gegen die groß angelegte Steuervermeidung der Jaebol-Konzerne und deren verdeckte Finanzierung von Parteien und Medien unternommen zu haben. Schon 2015 waren Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die Politik der Präsidentin zu protestieren.
Auf die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung reagierte Park mit einer zunehmend autoritären Politik, die Erinnerungen an die düstere Ära der Militärdiktatur wachrief. So ließ sie etwa mithilfe des Verfassungsgerichts die oppositionelle Vereinigte Progressive Partei verbieten, unter dem Vorwand, diese habe einen Aufstand zur Einführung des Kommunismus wie in Nordkorea geplant. Die 13 Abgeordneten der Partei verloren ihre Sitze im Parlament, einige wurden sogar inhaftiert.
Park erstellte zudem eine schwarze Liste mit den Namen kritischer Journalisten, Intellektueller, Künstler und Prominenter, um Beiträge und Präsenz dieser Personen in den wichtigen Medien zu unterbinden und ihren Handlungsspielraum einzuschränken. Außerdem ermutigte sie regierungstreue, häufig durch Werbung für die Jaebol finanzierte Medien dazu, auch die anderen Oppositionskräfte als pronordkoreanisch hinzustellen.
leitet die koreanische Ausgabe von Le Monde diplomatique und lehrt an der Kyung Hee Cyber University in Seoul.
Vor diesem Hintergrund begrüßen fast alle in Südkorea die Suspendierung der Präsidentin. Allerdings gibt auch der aktuelle Interimspräsident, Parks Premierminister Hwang Kyo Ahn, wenig Anlass zur Zuversicht. Während seiner Zeit als Justizminister (2013 bis 2015) wurde der Chef des Südkoreanischen Gewerkschaftsverbunds, Han Sang Gyun, zu acht Jahren Haft verurteilt, weil er eine Massenkundgebung am 14. November 2015 mitorganisiert hatte. Später wurde das Strafmaß auf drei Jahre verkürzt. Am 22. Dezember 2015 stürmten zudem tausende mit Tränengas bewaffnete Polizisten den Sitz des Gewerkschaftsbunds, um die Streiks gegen die südkoreanische Eisenbahngesellschaft Korail zu beenden.
Ob die aktuelle Protestwelle ausreichen wird, um die südkoreanische Demokratie von Grund auf zu erneuern, ist fraglich. Die konservativen Kräfte, die Park bei der letzten Präsidentschaftswahl unterstützt und ihre rückschrittliche, undemokratische Politik gebilligt haben, hoffen, noch einmal davonzukommen.
Protest jeden Samstag
Wenn es für die Saenuri-Partei ungünstig läuft, gelingt es der Opposition und den Bürgern, die sich weiterhin jeden Samstag versammeln, sich mit ihren Forderungen durchzusetzen: sofortige Absetzung der Präsidentin und Abhaltung vorgezogener Neuwahlen. In diesem Fall lägen die Chancen der Oppositionskandidaten nicht schlecht; Umfragen sehen sie gegenwärtig in der Wählergunst vor den Konservativen – allen voran Moon Jae In, ehemaliger Chef der Minju-Partei, und Lee Jae Myung, Bürgermeister von Seongnam, dessen Beliebtheitswerte in den vergangenen Monaten in die Höhe geschnellt sind.
Die Saenuri-Partei hat zudem mit einer innerparteilichen Spaltung zu kämpfen. Ende Dezember wendeten sich 29 ihrer 122 Abgeordneten gegen Park: Sie verkündeten ihren Austritt aus der Partei und gründeten die Neue Konservative Partei. Diese hofft, Ban Ki Moon, der Ende Dezember sein Amt als UN-Generalsekretär niedergelegt hat, als Galionsfigur und potenziellen Kandidaten für die nächste Präsidentenwahl zu gewinnen. Bislang galt Ban als möglicher Kandidat der Saenori-Partei. Doch im Zuge von Park Geun Hyes Suspendierung hat sich Ban von der Präsidentin distanziert, mit der er in der Vergangenheit enge Kontakte pflegte.
Auf die Frage eines Al-Dschasira-Journalisten nach seinen politischen Ambitionen antwortete Ban unlängst eher ausweichend: „Ich werde darüber nachdenken, wie ich meinem Land bestmöglich dienen kann.“
Sollte sich Ban für den Beitritt zur Neuen Konservativen Partei entscheiden, könnte die Saenori auf einen anderen Kandidaten setzen, etwa Won Hee Yong, Gouverneur der Provinz Jeju, und Yoo Seong Min, ehemaliger Parteivorsitzender. Beide standen unter der autokratisch regierenden Präsidentin im Abseits.
Gegenoffensive konservativer Medien
Während progressive Tageszeitungen wie Hankyoreh und Kyunghyang Chinmun grundlegende Reformen fordern, um die soziale Ungleichheit und die politische Ineffizienz im Land zu bekämpfen, läuft bereits eine Gegenoffensive der konservativen Medien. Dazu gehören etwa die drei großen Zeitungen Chosun Ilbo, Joongang Ilbo und Dong-A Ilbo, häufig auch einfach „Cho-Joong-Dong“ genannt, die Nachrichtensender und Wirtschaftsmagazine derselben Mediengruppen sowie die staatlichen TV-Sender. Dort wird gern behauptet, die Proteste seien für den Konjunkturabschwung und den Rückgang der Exporte verantwortlich.
Doch die Menschen, die in den vergangenen Monaten trotz zum Teil eisiger Temperaturen gegen die Präsidentin auf die Straße gingen, werden so schnell nicht aufgeben. Alles im Land schreit nach Veränderung: Das politische System hat seit dem Ende der Militärdiktatur außer Park vier Präsidenten hervorgebracht hat, die der Korruption im Amt beschuldigt wurden (Kim Young Sam, Kim Dae Jung, Lee Myung Bak und Roh Moo Hyun, der Selbstmord beging), und die Wirtschaft ist komplett von den Jaebol abhängig und ständig in Steuerbetrugs- und Schmiergeldskandale verwickelt. Das Wachstum lahmt, und selbst gut ausgebildete junge Menschen finden keine qualifizierten Beschäftigungen mit angemessener Bezahlung. In kaum einem anderen Land Asiens ist die Einkommensungleichheit in den vergangenen zwanzig Jahren schneller gestiegen als in Südkorea.
Viele Menschen finden, dass das südkoreanische Wirtschaftswunder zusehends zu einem Albtraum wird. Das ist der Grund, weshalb sich die Demonstranten – Jung und Alt, Männer und Frauen, Menschen mit und ohne Arbeit – weiterhin auf dem Gwanghwamun-Platz versammeln, unweit des Blauen Hauses, dem Regierungssitz. Sie wollen unbedingt verhindern, dass man ihnen ihren kleinen Sieg wieder nimmt.
Aus dem Französischen von Richard Siegert
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