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Augenzeugenbericht aus Goma in KongoIm Dazwischenland

Kongos M23-Rebellen haben den Staat aus der Millionenstadt Goma verjagt. Wie geht es dort weiter? Und welche Spuren hinterlässt der Krieg?

Bauernfamilie mit ihrer Ware in einer Straße in Goma am Sonntag, den 2. Februar Foto: Zanem Nety Zaidi/XinHua/dpa

Goma taz | Am 27. Januar ist Goma wie eine reife Frucht gefallen. Das Undenkbare wurde wahr: Nach Monaten Belagerung und Einkesselung besetzten die Angreifer eine Stadt, die für uneinnehmbar erklärt worden war. Die Hauptstadt der Provinz Nord-Kivu wurde nicht, wie von der Regierung der Demokratischen Republik Kongo versprochen, ihr Grab.

Ihnen fiel ein imposantes Waffenarsenal in die Hände. Das Zentralgefängnis Munzenze wurde geöffnet, Tausende Häftlinge ins Chaos bewaffneter Auseinandersetzungen mitten in der Stadt entlassen. Hunderttausende Kriegsvertriebene waren zu Tode erschrocken, als Bomben ihre notdürftigen Behausungen zerstörten.

Zunächst gab es weder Wasser noch Strom noch Lebensmittelversorgung. Mitarbeiter des Roten Kreuzes waren Tag und Nacht damit beschäftigt, in den 18 Bezirken der Stadt Leichen von den Straßen zu sammeln. Krankenhäuser und Gesundheitszentren veröffentlichten Zahlen: 773 Tote, 2.800 Verwundete. Die Armeen standen sich nämlich während der Kämpfe in dichtbesiedelten Gebieten gegenüber.

Vier Tage lang sprachen nur die Waffen. Und dann war plötzlich alles vorbei.

Goma ist erobert, wie schon 1996, 1998 und 2012. Das ist kein Sieg. Es ist ein Scheitern.

All diese Lügen, vom Niveau eines Tiktok-Videos

Wie konnte das passieren? Waren alle die offiziellen Reden nur reine Propaganda? „Scharmützel“ seien die Rebellenangriffe bloß, hieß es doch immer wieder, und „Goma wird nicht fallen“, „der Feind hat schwere Verluste erlitten“, „der Krieg fängt gerade erst an“. All diese Lügen, vom Niveau eines Tiktok-Videos, haben die Leute von der Wirklichkeit entfernt. Am Ende ist es besser, die Wahrheit zu kennen und anzuerkennen, auch wenn sie wehtut.

Wie überlebt man da? Menschenrechtsaktivisten stehen vor düsteren Zeiten. Wo sollen sie denn jetzt ihre Stimme erheben? Es gab Menschen, die am helllichten Tag mitten auf der Straße ohne Vorwarnung erschossen wurden, weil sie Gepäck trugen – erschossen von Rebellenpatrouillen auf der Suche nach Plünderern. Am dritten Tag nach der Besetzung Gomas versammelten sich einige mutige Demons­tranten vor den Gebäuden der UN-Mission Monusco, um ihrer Wut Luft zu machen. Sie wurden umgehend auseinandergetrieben, mit zwei oder drei Salven scharfer Munition. Die Bilanz ist nicht bekannt.

Gomas Bevölkerung hängt nun in der Luft. Kongos Außenministerin forderte den sofortigen Rückzug der Angreifer von kongolesischem Boden. Ist es das, was eine Regierung im Krieg tut? In Kinshasa und Bukavu organisierte die Regierung Märsche gegen die Rebellenbesetzung von Goma, während gleichzeitig in Gomas Nachbarstadt Gisenyi in Ruanda kongolesische Soldaten Zuflucht suchten und von ruandischen Polizisten entwaffnet wurden. Kann man sich das vorstellen? Manche Bewohner Gomas, patriotisch gesinnt bis zum Letzten, hatten den verzweifelten Soldaten noch zivile Kleidung zugeworfen, als sie an ihren Türen vorbeiliefen.

Die Militärregierung von Nord-Kivu, der Generalstab und die anderen hohen Generäle flohen mitten in der Nacht nach Bukavu in Süd-Kivu und überließen die einfache Truppe dem Feind. Wenig später fanden sich fast 500 Soldaten auf einem Schiff wieder, das von Ruandas Marine aus kongolesischen Gewässern zum Hafen Kasunyu im Rebellengebiet gelotst wurde. Die „patriotischen“ Wazalendo-Milizen, die zusammen mit der Armee Goma verteidigen sollten und dann sich selbst überlassen wurden, haben jetzt nur noch eine einzige Option zum Überleben – sich in M23-Soldaten verwandeln.

Wieder einmal hat die Regierung ihr Staatsgebiet und ihre Bevölkerung nicht schützen können. Kinshasa hat die Probleme Ostkongos immer leichtfertig abgetan. Während die Angreifer ein Gebiet nach dem anderen einnahmen, zog die Gegenseite in Kinshasa quer durch das Land und machte viel Lärm um ihr Projekt einer Änderung der kongolesischen Verfassung. Dazu kamen sinnlose Auslandsreisen, während im Inneren die Lage sich immer weiter verschlechterte. Wer wagte, das zu kritisieren, wurde ausführlich beschimpft, zum „Ruander“ erklärt und manchmal sogar verhaftet.

Schon seit einer ganzen Weile war in Goma zu beobachten, wie die Bevölkerung im Elend versank, während eine Schicht von millionenschweren geschäftstüchtigen Politikern und Offizieren entstand, die an den Kick-backs der Militärausgaben reich wurde. Es herrschte Kriegsrecht, aber das wurde hauptsächlich wirtschaftlich ausgenutzt, während man die Landesverteidigung ausländischen Partnern überließ. Eine Zivilisation kann man von außen nur zerstören, wenn sie von innen ausgehöhlt ist.

Eine blitzblanke Stadt mit lauter Einschusslöchern

Und jetzt? Inzwischen sind Wasser, Strom und der Verkehr mit dem Umland, von dem aus Goma versorgt wird, wiederhergestellt. Das Leben kehrt zurück – trotz steigender Preise und obwohl die Januargehälter, sofern sie aus Kinshasa überwiesen werden, vielleicht nie ankommen werden. Es herrscht wieder Ruhe, und die Menschen können sich anderen Dingen widmen als dem Krieg.

Von sechs Uhr morgens an versorgen sich also die kongolesischen Kleinhändler wie immer jenseits der Grenze in Ruanda mit Waren für Gomas Märkte. Der Samstag, der 1. Februar, war der „Operation sauberes Goma“ gewidmet. Die ganze Bevölkerung war auf den Straßen und säuberte sie von den Hinterlassenschaften der Kämpfe. Es war eine Spezialoperation, ein besonderer Salongo, wie diese öffentlichen Kehrwochen an jedem Samstagvormittag früher in der Mobutu-Ära hießen. Mit dem Unterschied, dass die Rebellion dieses Mal eine eindeutige Warnung vorausgeschickt hatte: Für Verweigerer gibt es keinen Prozess und kein Gefängnis.

Das Ergebnis war eine blitzblanke Stadt mit lauter Einschusslöchern an den Fassaden – wie zur Illustration der Herausforderung, unter der Fuchtel bewaffneter Männer ohne Loyalität zum Staat Veränderung herbeizuführen, ohne gleich noch diesen Männern Treue zu schwören. Welche Freiräume es überhaupt noch gibt und welche Grenzen man nicht überschreiten sollte, wenn man am Leben bleiben will, bleibt erst noch herauszufinden.

Die UNO ist weiter in Goma präsent. Die UN-Mission Monusco hält weiterhin vorläufig den internationalen Flughafen, zusammen mit der Eingreiftruppe SAMIRDC der SADC (Southern African Development Community) mit ihren Kontingenten aus Südafrika, Malawi und Tansania. Der Flughafen ist aber nicht in Betrieb. Es gibt keine staatlichen Start- und Landegenehmigungen oder Überfluggenehmigungen für das Rebellengebiet, das de facto Ruanda kontrolliert. Die Demokratische Republik Kongo bleibt ebenso wie Ruanda Mitglied der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC), die ein Treffen nach dem anderen abhält, damit sich diese beiden Mitglieder wieder vertragen.

Steht die Gründung eines neuen Staates bevor?

Derweil hat die Rebellion Rückenwind. Sie gibt sich Flügel, um das von ihr mit der Waffe eroberte Gebiet weiter zu vergrößern und als Pufferzone zwischen den beiden Ländern einzurichten. Aktuell ist Bukavu in Süd-Kivu unmittelbar bedroht. Stehen wir vor der Gründung eines neuen Staates, mit Goma als Hauptstadt?

Goma ist nicht von Ruanda annektiert worden. Aber es wird erst dann in die Demokratische Republik Kongo zurückkehren, wenn die Finanziers dieses Krieges genug Rendite auf ihre Investitionen erzielt haben und wenn ihr bewaffneter Arm, der die Drecksarbeit macht, sich vollgefressen hat. Was wird in der Zwischenzeit geschehen, in der Abwesenheit staatlicher Organisation?

Es scheint, dass die Lebenden keine Versöhnung mehr erleben werden. Dieser Krieg hat den Hass so tief in den Herzen verankert

Ein Gebiet, was praktisch größer ist als Ruanda und Burundi zusammengenommen, könnte der Autorität des kongolesischen Staates entgleiten. Die Plünderung von Gold, Coltan und seltenen Erden in Kivu wird weißgewaschen. Hoffentlich täuschen wir uns, aber es gibt scheinbar an den Ufern des Kivu-Sees keinen kongolesischen Kaffee mehr – alles wird woanders zertifiziert und exportiert, in völliger verlogener Legalität.

Es scheint festzustehen, und das ist das Schlimmste von allem, dass die lebenden Generationen von Eltern und Kindern zu ihren Lebzeiten keine Versöhnung mehr im Afrika der Großen Seen erleben werden. Dieser Krieg hat den Hass so tief in den Herzen verankert, dass ein Teufelskreis von Rache wahrscheinlicher erscheint als das Entstehen eines auf Dauer friedlichen Zusammenlebens.

Die blutenden Wunden werden sich nicht von einem Tag zum anderen schließen. Aus dem Zentralgefängnis brachen nicht nur viele Häftlinge aus, es sind auch ebenso viele in den angezündeten Gebäuden verbrannt. Wie erklärt man ihren Angehörigen, wie erklärt man all jenen, die ihre Nächsten und ihren Besitz verloren haben, dass dies ein Krieg für ihre Befreiung ist? Wovon sollen sie denn befreit worden sein?

Wer sich in den vergangenen Jahren um ein friedliches grenzüberschreitende Zusammenleben bemüht hat, sieht jetzt die Früchte seine Arbeit in Asche verwandelt. Welchen Trost können sie jetzt finden? Auf welcher Hoffnung kann man aufbauen, um jetzt eine Annäherung zwischen Völkern nach dreißig Jahren Massakern, die sie gegenseitig nicht anerkennen, wieder auf den Weg zu bringen?

Am Frieden arbeiten – losgelöst von Propagandalügen

Festzustellen ist also: Das mutige Volk von Goma ist unter die Fuchtel von Aggressoren gefallen. Goma und Umgebung sind von einer organisierten Bande besetzt, die ein riesiges Gebiet der Souveränität der Demokratischen Republik Kongo entzogen hat und Kriegswaffen einsetzt, um ihre Forderungen durchzusetzen. Das muss man zur Kenntnis nehmen, in aller Klarheit. Erst auf dieser Grundlage kann man losgelöst von den Propagandalügen aller Seiten an der Wiederherstellung des Friedens arbeiten.

Die Staatsmacht in Kinshasa steht mit dem Rücken zur Wand. Sie muss verhandeln, und weil man für einen Dialog zwei Seiten braucht, ist sie dazu verpflichtet, die Besatzer des Ostens als Gesprächspartner anzuerkennen. Die Afrikanische Union spricht von der M23 als „politisch-militärische Bewegung“ und fordert Gespräche. Ist das der Weg zu einem Verhandlungsfrieden? Die Zukunft wird es zeigen.

Der Autor lebt in Goma und hat in Goma, Minova und Bukavu als Lehrer, Radiojournalist und zivilgesellschaftlicher Aktivist gearbeitet. Aus dem Französischen von Dominic Johnson.

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