Auftakt der Sommerspiele in Tokio: Willkommen in Dystopia
Die olympischen Spiele sind traditionell Symbol für Vielfalt und Völkerverbindung. Doch bei den Coronaspielen von Tokio bleibt davon wenig übrig.
Es ist ein Ritus, dass sich die jeweils amtierenden Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees am Ende der Spiele zu einer freundlichen Schummelei hinreißen lassen. Sie hätten das beste Olympia gesehen, das es jemals gegeben habe, sagen sie regelmäßig, und sie rücken auch nicht von ihrer fabelhaften Legende ab, wenn es in den zurückliegenden zwei Wochen ernsthafte Zwischenfälle und Missstimmungen in der olympischen Gesellschaft gegeben hat.
Trotz seines Großtalents zum Schönreden dürfte es IOC-Chef Thomas Bach aber dieses Mal extrem schwerfallen, den Sommerspielen von Tokio den Stempel der Exklusivität aufzudrücken. Exklusiv sind diese Coronaspiele nur in einem: in ihrer dystopischen Anmutung. Thomas Bach könnte auf der Schlussfeier vielleicht diesen, auch nur halb wahren Satz in ein leeres Olympiastadion hineinsprechen: „Allen widrigen Umständen zum Trotz haben wir doch ganz ordentliche Sommerspiele gesehen.“ Mehr ist nicht drin. Oder?
Diese Spiele, die wegen Corona um ein Jahr verschoben worden sind – aber im Signet immer noch das Jahr 2020 tragen, als handele es sich um ein Relikt aus der Vergangenheit, das man in einer absurden Kraftanstrengung ins Hier und Heute zerrt –, haben sich in einem Möbiusband widerstreitender Interessen verfangen. Das IOC wollte der Sportwelt olympische Unterhaltung bieten, seinen Sponsoren eine Plattform und den Fernsehanstalten schöne Bilder zum Versenden in die Welt, nebenbei hätten sie sich gern – ähnlich der Uefa – inszeniert als Regisseure einer postcoronistischen Normalität.
Die Athleten wollten nach Monaten im Wartestand endlich zeigen, was sie draufhaben, sie sind schließlich die Protagonisten in diesem zirzensischen Spiel und waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit, um nur endlich „performen“ zu können. Japan wiederum schien dieses Event abhaken zu wollen wie eine lästige Pflicht – getreu dem Motto: Lasst es uns in Dreigottesnamen hinter uns bringen. Doch so einfach ließ sich dieser fromme Wunsch nicht umsetzen, denn die japanische Öffentlichkeit stellte sich quer. Sie entwickelte beim Gedanken, dass Millionen fremde Menschen aus allen Teilen der Welt die Insel entern und womöglich mit ihrem unberechenbaren Laisser-faire einen bunten Strauß an Virusvarianten ins Land tragen, eine regelrechte Paranoia.
Marathonlauf der Zugeständnisse
Japanische Medien ermittelten in der Bevölkerung immer höhere Werte von Skepsis. Zuletzt lehnten an die 80 Prozent der Japaner die Olympischen Spiele ab, und mit ihrer Angst vor viraler Überflutung trieben sie alle Akteure vor sich her: die japanische Politik, das Organisationskomitee von Tokio und nicht zuletzt das Internationale Olympische Komitee, das sich auf einen Marathonlauf der Zugeständnisse einlassen musste, notgedrungen. Die Schraube der Vorsichtsmaßnahmen wurde immer stärker angezogen: Zunächst wurde Olympiafans aus aller Welt die Einreise verwehrt, dann musste auch die sogenannte olympische Familie ihre Reisekontingente rigide zusammenstreichen.
Die Botschaft: Bleibt, wo ihr seid, wir wollen euch potenzielle Gefährder und Superspreader nicht hier haben, Olympia hin oder her. Wer dennoch in diesen Tagen ins Land kommt, muss sich einer Gesundheits- und Bewegungsüberwachung ergeben, die ihresgleichen sucht. Die Journalisten bewegen sich unter höchsten Sicherheitsauflagen in einer „Bubble“, sind „embedded“, und selbst japanische Zuschauer dürfen nun nicht in die Stadien und Arenen, wohl um den Anschein einer Vorzugsbehandlung zu vermeiden.
Die Olympischen Spiele drohen unter dem Diktat der Prävention radikal ihren Reiz und ihren Charme zu verlieren. Die Ränge bleiben leer, viele Herzen kühl, und die Kameraleute müssen wohl kleine Wunder vollbringen, um die deprimierende Atmosphäre zu kaschieren. Den Schritt, den die Uefa gegen den Rat der Mahner zu gehen wagte, nämlich Stadien mit bis zu 60.000 Menschen zu füllen, geht Tokio nicht. Im Gegenteil: Sie haben einen Safe Space designt, der vielleicht ins Jahr 2020 passt, aber nicht mehr in eine Zeit, in der wir so viel mehr wissen über dieses Virus, seine Gefährlichkeit und Verbreitungsmöglichkeiten.
Wie ist das zu erklären? Vielleicht damit, dass Japan ein Land technologischer Lösungen ist. Tokio liegt nicht zufällig im Safe Cities Index der sichersten Metropolen auf Platz eins. Wie man scheinbar übermächtigen Gefahren trotz, zeigt der beispielhafte Bau von erdbebensicheren Hochhäusern, die den fast tausend jährlichen Beben in der Präfektur Tokio trotzen. Der Hochwasserschutz ist ebenso mustergültig wie die Gesundheitsvorsorge.
Die Japaner haben schon vor Corona bei kleinsten Anzeichen einer Erkältung eine Gesichtsmaske getragen, um vornehmlich die anderen vor Keimen zu schützen. Sie vertrauen sich und ihrem System, sie misstrauen freilich nicht selten dem System der anderen, und das führt jetzt, da sich die Welt anschickte, Japan in einen bunten Jahrmarkt zu verwandeln, zu einem Olympia, das seinen Wesenskern verliert.
Es sind ja insbesondere die herzerwärmenden Geschichten von Sportlerinnen aus Uganda, die in der Kantine des olympischen Dorfes auf den Star des Basketball-Dream-Teams treffen, die Storys vom Volunteer aus Vietnam, der seinen kleinen Traum von Olympia am Schießstand oder im Segelrevier auslebt. Vielleicht ergeben sich im Lauf der Zeit, also je länger die Spiele dauern, diese Begegnungen, vielleicht entwickelt sich doch ein Sog, der die Sommerspiele hier und da unwiderstehlich macht.
Aber was bleibt schon von der alten Wirkmächtigkeit der Spiele, wenn selbst die japanischen Großsponsoren Toyota und Panasonic abrücken von Olympia, als sei es ein kontaminiertes Etwas, ein Igitt-Event, in dessen Corona man lieber nicht werblich aufscheinen möchte, weil das einem die japanische Öffentlichkeit übel nehmen könnte. Wenn sogar die Unternehmen, die sich einst rangelten um die olympischen Ringe, Reißaus nehmen, dann ist es schlecht bestellt um die Spiele in ihrer aseptischen Tokioter Version.
Sie verkommen zum schnöden Verwaltungsakt des Amts für olympische Bilderproduktion. Sie werden für Olympiafreunde der alten Schule zu einer Zumutung.
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