Aufstieg auf den Gasometer in Schöneberg: Da oben helfen nur noch Buletten

Sascha Maikowski bringt Menschen an ihre Grenzen, wenn er sie auf den 78 Meter hohen Gasometer in Schöneberg mitnimmt. Bald ist damit Schluss.

Ein riesengroßes Stahlkonstrukt vor dem Berliner Horizont. Zwei Stockwerke sind zu erkennen und im Hintergrund der Sonnenuntergang.

Mitten drin und doch weit weg: Berlin vom Gasometer in Schöneberg aus gesehen Foto: Robert Günther

BERLIN taz | Das mit den Buletten sagt Sascha nur, weil er uns das Leben retten will. Wir sind so auf Meter 65, als uns langsam die Beine wegsacken, wir uns an den Handläufen festklammern. Der Blick glasig wird, die Angst sich aus uns erbrechen will. Und Sascha, mit seinen weißen Haaren und der runden Brille, sich vor uns die Treppe hochzieht und flötet, wir sollten mal überlegen, wo wir gleich eine Kleinigkeit essen. Dahinten, sagt er und zeigt in den dunkler werdenden Berliner Himmel, da gibt es die besten Buletten, und wir haben seine Lederjacke in der Nase, die so riecht, als hätte sie schon einiges erlebt, aber selten Angst.

Das mit der Bulette sei Strategie, wird Sascha später sagen. „Wir quatschen die Leute voll, um sie abzulenken.“ Maikowski heißt er, Herr über den Schöneberger Gasometer, zumindest bis er Ende dieser Woche erstmal schließt. Er ist einer von der Art alter, weißer Männer, die wir eines Tages schmerzlich vermissen werden: ein schmunzelnder Geschichtenerzähler, mit leicht hochgezogenen Schultern, dem man gern zuhört, wie er die Stadt erklärt.

Seit 12 Jahren führt er die Leute an ihre Grenzen, ungesichert hoch auf 78 Meter, erst Treppen, dann über schmale Gitter durch das begehbare Gerüst. Und erlebt dabei, was Höhe mit ihnen macht. Ein unvergessliches Erlebnis, hatte Saschas Team vorher in einer E-Mail versprochen. Und wir hatten das erst noch hochmütig als Floskel abgetan.

Sascha selbst hat drei Monate gebraucht, um nach oben zu kommen. „Ich dachte, das ist wie Bungee-Jumping, das macht keiner, der was im Kopf hat.“ Warum hat er es dann trotzdem versucht? „Weil es in kaum einer anderen Stadt der Welt so einen guten Blick gibt wie hier oben.“

Ausdehnbare Gas-Glocke und Günther Jauch

Aber noch mal von ganz unten. Bevor wir die erste Stufe betreten, bekommen wir eine gelbe Warnweste, legen Taschen ab, dann wird die Tür hinter uns abgeschlossen. Eine Frage klären wir gleich auf „der Eins“ – so nummeriert Sascha die begehbaren Ringe des Bauwerks durch – es heißt der Gasometer und nicht das Gasometer. Und der wurde zwischen 1908 und 1910 gebaut, speicherte bis 1995 Stadtgas in einer ausdehnbaren Glocke – unten verschlossen mit Wassertassen –, in der dann später Günther Jauch rumtalkte.

Sascha Maikowski, Kletter-Guide

„Ich will nicht, dass hier jemand stolpert“

Wir aber sind draußen. Jetzt auf der Drei. Der Fernsehturm sieht fast schwarz aus. „Hartes Licht heute“, sagt Sascha und zeigt in die andere Richtung: Rathaus Schöneberg, Kennedybalkon. Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße. Er weiß, wo Kevin Kühnert wohnt – sagt es aber nicht – und wo der alte Besitzer vom Quasimodo seine Balkonzigarette raucht. Erzählt, welche Gebäude man hochkommt, kennt die Namen der Kirchturmspitzen. „Wir haben auch viel von den Gästen gelernt“, sagt er. 30 Prozent kämen aus der Umgebung. Kürzlich war ein älterer Herr da, der die Elektrik vom Fernsehturm verbaut hat. Architekten kommen und Politiker. Wowereit war auch mal da. Und ist er ganz hoch gegangen? „Darüber spricht man nicht.“

Außer Funktion 1995 wurde der 1908 bis 1910 gebaute Niedrigdruckgasbehälter stillgelegt, später verkauft. Nun soll im Innern des Gasometers ein mehrstöckiges Gebäude gebaut werden. Eine Bürgerinitiative sammelt Unterschriften gegen das Vorhaben des Investors und EUREF-Planers Reinhard Müller.

Neue Pläne Erst hieß es, Elon Musk habe den Gasometer gekauft, der inmitten des Stadtquartiers steht, in dem sich Firmen angesiedelt haben, die mit Nachhaltigkeit, Mobilität und Energie ihr Geld verdienen. Doch kürzlich wurde gemunkelt, die Deutsche Bahn wolle hier bauen. Was und wie hoch, ist noch nicht ganz klar, das Projekt befindet sich noch im Bebauungsplanverfahren.

Weiter klettern Mit den Gasometer-Touren ist damit erst mal Schluss, Für Sascha Maikowski und sein Team soll es aber weiter­gehen, es ist nur noch nicht klar, wo. Er selbst könnte sich Führungen durch ein Betonmischwerk vorstellen und würde gern weiter hoch hinaus: auf den Fernsehturm, die Aussichtsplattform auf dem Roten Rathaus, das Europa-Center oder den Funkturm. (taz)

Sascha ist in Berlin geboren, russisch-polnischer Hintergrund, wann genau, will er nicht sagen. Hat er mal gemacht hat, da wurde ihm ein Job abgesagt. Jemand fand, er sei zu alt. Er findet das nicht. Mit 12 entschied er, zu reisen. Er ging in London zur Schule, arbeitete in den USA. „Aus dem Deutschland der 50er Jahre wollte man weg.“ Sagt er. Er zog mit amerikanischen Jazzmusikern und der New Yorker Anarcho-Theatergruppe The Living Theater rum, surfte, fuhr Motorrad und ging irgendwann zu Reiseveranstaltern, um sich Arbeit zu suchen.

Sascha ist einer, der im Flugzeug am Fenster sitzt. Er hat Expeditionen, Studien- und Weltreisen organisiert, in Berlin nur seine Koffer neu gepackt. Bis er hier – zumindest im Sommer – Kreuzfahrtgäste umher führte, die in Rostock anlegten. Sesshaft wurde er erst durch den Gasometer. Und zu dem kam er über eine Annonce, Guides gesucht. Seine Chefin stieg nach etwas über einem Jahr aus. Dann bot man Sascha an, zu übernehmen. Er hatte zwar keine Lust auf die Büroarbeit, die damit anfiel, doch irgendwann gab er nach.

„Wir sind jetzt auf der Vier“, gibt Sascha an sein Team übers Funkgerät durch. Wir gehen über eine der Ausbuchtungen, die um die Stützen herumführen, halten uns am rostenden Stahlskelett fest. Es fühlt sich so an, als würde die Schädeldecke aufgehen. Bezugspunkte im Innen oder im Außen suchen? Blick auf Sascha, der wirkt auf eine Art geschäftig, die beruhigt, der man aber auch misstraut: Ständig wird der Standort ans Team durchgegeben, die Funktion von Walkie-Talkies geprüft. Alles irre gefährlich hier oder vielleicht auch Teil der Strategie?

Höhenangst ist Einbildung

420 Stufen sind es insgesamt. Ein Aufstieg zu sich selbst. Wahrscheinlich stärkere Wirkung als Kundalini-Yoga auf LSD. Weil man merkt, dass Angst ein Freund ist, dem man in die Augen schauen muss. Sascha fummelt ein Band ab, das sich um die rostende Balustrade gewickelt hat. „Ich will nicht, dass hier jemand stolpert.“ Niemand will das. Dahinten brütet ein Turmfalke, erzählt er dann.

Wie oft er oben war, zählt er nicht. Genauso wenig wie seine Weltreisen. Er macht Touren zum Sonnenaufgang, zum Sonnenuntergang, zwischendrin. Über Neukölln geht die Sonne auf. „Jeder Stadtteil bekommt durch die aufsteigende Feuchte eine andere Farbe. Wie in Manila. Ein Farbenmeer bis dorthinaus.“ Er sieht, wie Lichter angehen. Wie Menschen ins Bett gehen oder zur Arbeit, die meisten nicht so gern wie er, vermutet Sascha. Er ist weit weg von allem, aber genau mittendrin.

Im Winter pausierten die Touren immer für ein paar Monate, Sascha ging trotzdem hoch. Auch zu Silvester. Bald dann das letzte Mal. „Wir weinen jetzt schon.“ „Wir“ sagt er, sein Team, sei wie seine Familie. „Wir feiern auch Geburtstage zusammen.“ Jeder der Guides hat nebenbei noch einen anderen Beruf – Musiker, Künstler, Lehrer –, das ist Sascha wichtig, denn sie seien keine Stadtrundfahrtsmaschinen. Und alle haben am Anfang Angst gehabt. Das sei Einstellungsvoraussetzung, sonst könne man die Angst der anderen nicht nachvollziehen, um sie ihnen zu nehmen. Bricht jemand ab, muss der Guide dem Team ein Bier ausgeben.

Personen stehen auf dem Industriedenkmal Schöneberg. Sie sind von weit aufgenommen, man erkennt nur ihre Silhouetten. Eine Person zeigt mit dem Arm in die Ferne, eine andere Person macht ein Foto.

Schau mal, da drüben ist der Kennedybalkon und hier gleich sind deine Urängste Foto: Robert Günther

Wen die Angst lähmt, der wird abgeholt. Zwei, drei Fälle gab es, die am Boden sitzend die Treppen runterrutschen mussten. Die Quote der Abbrecher sei vor allem dann recht hoch, wenn die Tour ein Geschenk war. Ansonsten seien es etwa 5 Prozent, die es nicht hochschafften. Eher Männer. Frauen würden sich den Aufstieg vornehmen und durchziehen. Aber was macht die Höhe mit den Menschen? Man fühle sich wie ein Held, sagt Sascha. Als er das erste Mal runtergekommen sei, war er anschließend im Supermarkt und habe gedacht: „Wieso erkennt mich keiner? Ich war doch da oben! Ich war doch über euch!“ Hat aber keiner gesehen.

„Wir gehen jetzt auf die Sieben“, sagt Sascha, es klingt bedrohlich. „Wir müssen auch nicht ganz nach oben“, sagen wir. Doch, doch, sagt Sascha. Und dann kommt das mit der Bulette. Wir gehen weiter, die Welt wabert. Über Spandau geht die Sonne unter. Und wir fühlen uns wie ins Wasser geworfene Schaumstofftier-Kapseln.

Auf der Sechs steht eine andere Gruppe. Wir gucken runter. Ein Mann sitzt etwas Abseits. „Hast du da einen Wowi?“ fragt Sascha durchs Funkgerät, eines ihrer Codewörter. Ein anderes ist Rathaus Schöneberg: Wegen der Uhr dort, ein Hinweis, dass es Zeit ist, herunterzugehen. Der Kollege schüttelt den Kopf. Kein Wowi. Kein Bier später.

Höhenangst sei ja eine eingebildete Sache, sagt Sascha. Und wahrscheinlich hat er recht, jedes unserer existenziellen Gefühle ist immer auch ein bisschen eine Einbildung. Das versteht man da oben und stellt sich gegen das starke Gefühl, wie gegen den Wind, der hier weht. „Wir sind eine Glücksmaschine“, sagt Sascha. „Jeder, der hier hochgeht, überwindet Angst, steht da und staunt.“ Und so staunen wir. Und fallen uns trotzdem erleichtert in die Arme, als Sascha uns zurück auf den Boden gebracht hat.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.