Attraktive Seiten von Calais: Zwischen Tristesse und Aufbruch

Die nordfranzösische Stadt ist arm, unansehnlich und bekannt als Dauer- Kulisse eines Flüchtlingsdramas. Doch sie hat auch andere Facetten.

Zwei Männer und eine Frau in der Bar mit Mikrofon

Im „Le K’vo“, der einzigen Karaokebar von Calais Foto: Julia Druelle

Sie wollen sich des Nachts an der Seele herumklempnern? Suchen Sie einen knallgrünen Kanarienvogel, der auf einer CD balanciert und ein gelbes Mikrofon im Flügel hält. Fündig werden Sie in einer dunklen Seitenstraße mit brüchigem Asphalt, irgendwo hinter dem Parc Richelieu. Dort prangt der Kanari auf einem Schild über dem Eingang. Sie klingeln, denn man läuft hier nicht einfach so hinein. Ein Augenpaar erscheint hinter dem kleinen Sichtfenster in der Tür. Ein prüfender Blick, dann gewährt Marie Pièrre Einlass und begrüßt Sie mit zwei Wangenküssen.

Marie-Pierre, Mitte fünfzig, dunkle, kurze Haare, enge Lederjacke, ist nicht irgendjemand in dieser Stadt. Sie ist die Seele von „Le K’vo“, der einzigen Karaokebar weit und breit. Ein Besuch dort ersetzt den Psychologen, erklärt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, um halb vier nachts am Tresen, über den sie soeben einem Gast ein Mikrofon gereicht hat. Man ist geneigt ihr zu glauben, angesichts all dieser Funktionen, die sie seit 27 Jahren hier hat: Betreiberin, Türsteherin, Thekenkraft, und die nüchternste Person in diesem Schlauch von einer Bar ist sie ohnehin.

Rund um den vollverspiegelten Tresen brechen sich gelbe, weiße, grüne und violette Lichtstrahlen in blitzblanken Gläsern. An seinem Ende befindet sich das Herz des „K’vo“: die Karaoke-Anlage, wo die Gäste, je später, desto zahlreicher, die Worte von einem Bildschirm ablesen und ins Mikrofon singen. „Alle kommen hierher. Alle Altersstufen, alle Klassen“, fasst Marie-Pierre zusammen, was ihr Etablissement ausmacht. „Manche haben wirklich schöne Stimmen!“ Aber wie gesagt, hier ist noch mehr im Spiel: „Wenn sie singen, fühlen die Leute sich besser. Der Stress geht weg. Es ist wie Therapie.“

Die Nacht ist längst nicht mehr jung, doch noch immer drängt sich eine ganz unterschiedliche Fauna in den kitschigen, mit rotem Plüsch ausgestatteten Séparées. Unter rustikalen Holzbalken hängen falsche Goldene Schallplatten mit den Konterfeis von Michael Jackson und Elvis Presley an den Wänden. Man wähnt sich meilenweit entfernt von den neuen, urbaneren Lounges, die jenseits der Place d’Armes entlang der Straße zum Strand eröffnet haben. Dies ist ein anderer Stil, ein hoffnungslos und zugleich rührend überholter, der zum Beat dieser Stadt passt.

Schlechter Ruf

In guten Nächten ist die Therapie ein Marathon, und die Pa­tienten lösen sich fast ohne Pause ab. Die beliebtesten Interpreten sind tot: eben erst verstorben, wie Johnny Hallyday oder France Gall, oder schon lange, wie ihr Gatte Michel Berger oder Freddie Mercury. Ein schmaler junger Mann hält jetzt das Mikrofon. Er singt Sätze, die auf dem Bildschirm über dem Tresen erscheinen, von einem traurigen Mädchen, das zwischen rosa Laken vergeblich auf ihren Musiker-Freund wartet. Keine Frage: wo Endzwanziger „La groupie du pianiste“singen, schlägt der Puls von Calais.

Die Melancholie wabert geradezu durch diese Stadt, die einst ein Zentrum der europäischen Spitzenindustrie war. Längst sind die meisten Fabriken geschlossen. Was blieb: schäbige Straßen, verlassene Häuser, rissige, blassrote Trottoirs unter dem ewigen Schreien der Möwen. Von einer kommunistischen Hochburg ist Calais zu einem Bollwerk des Front National geworden. Der belastete Ruf der Stadt hat damit freilich wenig zu tun. Im Grunde kann sie nicht einmal etwas dafür, denn wenn etwa Sankt Gallen oder Klagenfurt, um in ähnlichen Dimensionen zu bleiben, an der Meerenge vor Großbritannien lägen, hätten sich zwei Jahrzehnte transitmigrantischer Dramen eben dort abgespielt.

Die Stadt selbst ist für diese Dramen nur Kulisse. Ebenso für die Journalisten, die immer kommen, wenn es knallt, und Calais zur Abwechslung ausgebuchte Hotels bescheren. Und erst recht für die Reisenden zwischen England und dem Kontinent. Wer mehr als den Weg zur Fähre sieht, nimmt neben dem kolossalen Glockenturm des Stadthauses nicht selten vor allem Verfall wahr. Kommt man dann an den Strand, ist man fast überrascht. An seinem westlichem Ende schließen sich die Dünen von Blériot an. Ein Küstenstrich namens Côte d’Opale beginnt hier. Wenn es nicht regnet, kann das Wasser bemerkenswert hellblau sein.

Umfangreiches Facelifting

In Tourismusbehörde und Rathaus setzt man voll auf diese Karte. Calais bekommt derzeit ein umfangreiches Facelifting: mit Elementen, die britische Reisende an zu Hause erinnern sollen, wie die hölzerne Nachbildung der Tower Bridge auf einer Verkehrsinsel. Mit einem neu angelegten Flanier­gebiet bei den Befestigungsanlagen am Hafen und einer Neugestaltung des „Front de Mer“. Ein Entwurf an der Straße, die zum Strand führt, zeigt spazierende Familien auf einer sonnenbeschienenen Promenade. Noch ist das Gebiet eine Baustelle, und wo der Asphalt nicht aufgerissen ist, parken Autos.

Anfahrt: Die Hafenstadt liegt an der Meerenge von Dover, gut 30 Kilometer entfernt von den Kreidefelsen, die man vom Strand aus manchmal sieht. Anreise per TGV von Brüssel (2 Stunden) oder Paris (1:45 Stunden) nach Calais-Frethun, bzw. Bummelzug ab Lille Flandres nach Calais Ville (1:30 Stunden). Fähren nach Dover mindestens einmal stündlich, Dauer rund 1:30 Stunden.

Schauplätze: Die Karaokebar „Le K’vo“ findet man in 4 Rue du Duc de Guise, zwischen dem Parc Richelieu und der Place d’Armes. Der Leuchtturm liegt an der Place Henri Barbusse auf halbem Weg zum Hafen. [Link auf http://www.pharedecalais.com/]

Übernachtung: Einfach, sehr freundlich und preiswert ist Hotel Richelieu, 17 Rue Richelieu, am gleichnamigen Park gelegen. Nur ein paar Ecken weiter liegt das 3-Sterne-Hotel Meurice, dessen Glorie ein wenig in die Jahre gekommen, aber noch immer sehr stilvoll ist.

Schnellrestaurant: Le Tunisien liegt derzeit mitten an der Strandpromenade, Digue Gaston Berthe.

Fast hätte man in diesem Provisorium den braunen Container nicht wiedergefunden, der hier draußen immer eine gute Anlaufstelle ist. Wegen der Bauarbeiten ist er nun vom Hafenrand an die Mitte des Strands umgezogen. „Restauration Rapide Le Tunisien“ steht darauf, „Maison fondée en 1968“. Calais hat in diesem Jahr ihr ganz eigenes 50. Jubiläum. Es steht im Zeichen von Falafel, Kebab und vor allem beignets. Mit den frittierten und gepuderten Teigringen begann Ahmed Khalfet einst seinen Laden. Vor ein paar Jahren verstarb er. Sein Sohn Ali, 44, steht heute an dem tiefen Kessel und wirft Teig ins 180 Grad heiße Fett. An einem sonnigen Nachmittag produziert er beignets wie am Fließband.

Draußen stehen die Kunden bis auf die Straße. Die längste Schlange findet sich vor Le Tunisién, einer von nur zwei Quellen echter tunesischer beignets im Land, sagt Ali Khalfet. Doch auch die Nachbar- Container sind beliebt: links die „Friterie de la plage“, rechts die „Friterie des nations“. Zusammen bilden sie die lokale Dreifaltigkeit der Strandgastronomie. Imbisse wie diese gehören zu Calais wie der Wind. Vielleicht liegt es am Klima, dass Fritten mit scharfer Samurai- Sauce oder Harissa hier besser schmecken. Und wie drüben, auf der anderen Seite des Kanals, gibt es Essig dazu und Papier drum herum.

Und dann das Meer

Eine Stärkung am Meer gehört zu den beliebten Wochenendbräuchen in Calais. Ist das Wetter schlecht, sitzt man dabei im Auto und blickt auf die See. An diesem Nachmittag aber turnen die Kinder auf den Spielplätzen, und die Erwachsenen stehen überall davor, plaudernd und kauend. „Die besten Leute Frankreichs“, sagt Ali Khalfet, habe sein Vater hier gefunden, der einst das ganze Land nach einer Bleibe für die Familie absuchte. „Sie sind gut und einfach, wie das Leben hier.“ Genau das ist es, was Ali Khalfet an seiner Stadt so mag. „Es ist ruhig hier. Und es ist nicht besonders heiß. Ich mag nämlich keine Hitze! Und dann ist da natürlich noch der Strand!“

Einfach gemacht hat es ­Calais seinen Besuchern nie. Natürlich ist dies kein Ort, in den man sich im Vorbeifahren verliebt. An Nachmittagen wie diesen beginnt man immerhin etwas wie Charme zu spüren – und nicht einmal wenig, wenn man dafür empfänglich ist. Am nächsten Tag treibt ein Sturm dafür wieder schneidend kalte Schauer um die Häuser. Grau wie die Luft sind die Gebäude, und im kleinen Hafenviertel, wo rund um die Place de Suede so manche Rolläden schon länger nicht mehr hochgezogen werden.

Verlassen mutet auch der Leuchtturm an, der sich auf seinem grasbewachsenen Hügel hoch über dem Quartier erhebt. 54 Meter, um genau zu sein, verteilt auf 271 Stufen bis oben zur Galerie. Sagt Tony Garbe, der hier Besucher herumführt. Eigentlich. An diesem Tag allerdings, an dem man wegen des Sturms nicht mal die Galerie betreten darf, hat er noch keinen Kunden gehabt. „Und morgen wird es genauso sein“, zuckt er mit den Schultern. Der Leuchtturm ist wohltuend warm. Es riecht nach altem, trockenem Holz. Dann klingelt es am Eingang: Eine Lichtschranke löst das Geräusch aus, wenn Kundschaft kommt. Doch da ist niemand.

Der Leuchtturm-Guide

„Das Gespenst“, sagt Tony Garbe, grinsend. Man hört die Geschichte gelegentlich in der Stadt: der Spuk vom Leuchtturm. Was steckt dahinter? „Bevor der Leuchtturm hier stand, gab es am selben Ort eine Kaserne. Als das Fundament gebaut wurde, fand man zwei Leichen: ein Mann, vermutlich ein hoher Militär, und eine Frau, die dort zusammen begraben waren. Sie wurden nie identifiziert. Seitdem erzählt man sich von dem Gespenst. Wir nennen es Marcel.“ Irgendetwas scheint Marcel quer zu sitzen an diesem Tag, denn das schrille Klingeln im Eingangsbereich wird immer häufiger, bis es zu einem dauerhaften Ton anwächst. Dann setzt es abrupt aus.

Marcel und Tony passen ganz gut zusammen. Letzteren findet man nämlich nicht nur im Leuchtturm, sondern auch auf der Bühne. Am Mikrofon, genauer gesagt, denn Garbe, 46, ist Gründer, Texter und Sänger einer Wave Band namens „Curse of the Vampire“. Der überaus freundliche Leuchtturm-Guide ist ein lebendes Stück Subkultur, das man in Calais nicht unbedingt erwartet hätte: schwarze Lederjacke, Kapuzenpullover und Jeans, Stiefel mit Nietenband, schwarze Haare, nur der Bart wird ein wenig weiß. Am Revers der Jacke heften Buttons, auf einem ist Robert Smith zu sehen, der Cure-Sänger. Tony Garbe liebt The Cure. Seine Freundin, erzählt er breit grinsend, nenne sich selbstironisch la groupie du curiste.

Eigentlich ist seine Freundin, die in der Nähe von Lens wohnt, auch der einzige Grund, weshalb Tony Garbe eines Tages Calais verlassen könnte. Aber was ist es, das er so mag? „Natürlich hat diese Stadt einen schlechten Ruf. Aber es ist eben auch die Stadt, in der ich all meine 46 Jahre gelebt habe. In der ich so viele Erinnerungen habe. Viele meiner Freunde sind auch hier geblieben. Und das Meer, ich würde es vermissen!“

Im Eingangsbereich schrillt es wieder. Tony Garbe lugt die Treppe hinunter. Keine Kundschaft in Sicht. Es scheint, dass, Marcel, das Gespenst des Leuchtturms, seinen Mittagsschlaf beendet hat.

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