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Attentäter-Video im NetzDas Gladbeck der Smartphone-Ära

Ein Passant macht das erste Interview mit dem Londoner Attentäter. Er filmt die blutigen Hände mit dem Handy und schickt der Welt die Bilder.

Trauernde am Tatort in Woolwich. Bild: dpa

Beil und Messer klappern, wenn Michael Adebolajo seine Waffen von der linken in die rechte Hand legt – und wieder zurück. Mit der jeweils freien Hand gestikuliert der mutmaßliche Mörder. Er spricht in die Linse der Handykamera und erklärt, warum er gerade einen Menschen umgebracht hat. Das Opfer, der 25-jährige Lee Rigby, liegt ein paar Meter entfernt auf der Straße. Passanten laufen an Michael Adebolajo vorbei. Er flieht nicht, er will gehört werden.

„Der einzige Grund, warum wir diesen Mann heute getötet haben, ist der, dass Muslime tagtäglich von britischen Soldaten getötet werden“, sagt Adebolajo. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, fährt er fort. Eine bizarre Situation. Seine Stimme ist klar, und relativ ruhig spricht er weiter. „Wir schwören beim allmächtigen Allah, dass wir nie aufhören werden zu kämpfen, bis ihr uns in Ruhe lasst.“

Der Mann, der diese surreale Szene aufnahm, war laut britischen Medien mit dem Bus unterwegs zu einem Vorstellungsgespräch. Man sieht, wie er erst durch die Frontscheibe filmt, sich dann aus dem Fahrzeug wagt und ohne zu zittern draufhält, als er sich Adebolajo nähert. Der entschuldigt sich, dass Frauen die Tat mitansehen mussten. „Wenn ich heute deine Mutter mit einem Kinderwagen sehen würde, ich würde ihr die Treppenstufen hinaufhelfen“, sagt er. „Das ist mein Wesen.“

Alle britischen TV-Sender und Zeitungen zeigen diese Aufnahmen, die zuerst beim Sender ITV zu sehen waren. Bei manchen ist Adebolajo unkenntlich gemacht, bei anderen nicht. Dürfen Medien dem Täter ein Podium geben?

Erinnerungen an Rösner und Degowski

In Deutschland stellte sich 1988 der Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner in Bremen den Fernsehkameras. „Wir werden einige Forderungen stellen, und werden die nicht erfüllt, knallt es“, sagte er. Hinter ihm stand ein Linienbus mit 32 Fahrgästen, die der zweite Täter Dieter Degowski bedrohte. Journalisten spielten Vermittler, einer stieg gar zu Tätern und Geiseln ins Auto, lotste sie zu einer Autobahnauffahrt.

Das nach seinem Ausgangspunkt als „Gladbecker Geiseldrama“ in die Geschichte eingegangene Verbrechen endete mit zwei toten Geiseln. Der Presserat beschied anschließend, dass sich Journalisten „nicht zum Werkzeug von Verbrechen machen lassen“ dürfen. „Interviews mit Geiselnehmern während des Geschehens darf es nicht geben.“

Doch scheinen diese Regeln in Zeiten einer digitalisierten, vernetzten (Medien-)Welt nicht mehr zu gelten. Die Aufnahmen von Michael Adebolajo, die noch vor seiner Festnahme durch die Polizei entstanden, sind ohne die Anwesenheit von Zeitungs- oder Fernsehreportern aufgenommen worden. Und sie hätten auch ohne die klassischen Medien ihren Weg um die Welt gefunden.

Das Smartphone kann heute aus jedem Beobachter einen Reporter machen, der das Video ins Netz spielt und damit die Nachrichten verteilt. 1988 lag die Verantwortung für die Veröffentlichung noch allein auf den Schultern einiger Journalisten.

Die Sender und Websites haben lediglich für eine noch schnellere Verbreitung gesorgt, sie haben Adebolajo eine noch größere Bühne gebaut – und der nutzte sie zu seinen Zwecken. „Allahs Segen sei mit dir“, sagt Adebolajo zum Schluss. Dann geht er.

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12 Kommentare

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  • SW
    So war Gladbeck (2)

    „Am Vormittag dieses Tages haben die beiden Gangster Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, ein Krimineller und sein Gehilfe, in einer Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck zwei Geiseln genommen, bald darauf lassen sie die Geiseln bei Sendern und Zeitungen anrufen, um die Forderungen mitzuteilen. 300.000 Mark, den zweiten Tresorschlüssel und ein Fluchtfahrzeug.“

    „Redaktionen, die nicht angerufen werden, rufen selbst dort an, die Nummer der Bank steht im Telefonbuch. Man verlangt, die Geiseln zu sprechen, oder die Geiselnehmer…“

    „Als die Gangster nach Bremen kommen, berichtet Radio Bremen, die Moderatorin der Nachrichtensendung sagt: "Das aufsehenerregende Geiseldrama von Gladbeck ist keineswegs zu Ende, besonders nicht für uns, im Gegenteil: Denn heute kamen die Gangster nach Bremen."

    „Der Mann springt in den Bus, fuchtelt mit der Pistole herum und brüllt, sie seien jetzt alle Geiseln. (…) Immer mehr Menschen drängen herein, offensichtlich Journalisten, sie haben Fotoapparate und Kameras, richten ihre Objektive auf Ines und Silke, auf ein Geschwisterpaar wenige Reihen hinter ihnen und auf die anderen Passagiere. Es blitzt und surrt, es ist laut und unübersichtlich. Die Fernsehzuschauer werden später sehen, wie Rösner und Degowski in aller Ruhe Bierdosen und Plastiktüten in den Bus laden. Sie werden die beiden ernsten Gesichter von Ines Voitle und Silke Bischoff sehen und wie der 15-jährige Italiener Emanuele de Giorgi schützend den Arm um seine neunjährige Schwester Tatiana legt. Ein Reporter wird live vor Ort die Forderungen der Geiselnehmer vortragen.“

    „Das deutsche Fernsehen zeigt den inzwischen gekaperten Linienbus. Die Menschen im Bus, Plastiktüten von Spar auf dem Schoß. Es zeigt Rösner, wie er die Banknoten aus dem Lösegeld überprüft. Er gibt Interviews. Das Fernsehen begleitet den Bus auf seiner Fahrt zur Autobahnraststätte Grundbergsee“

    „Es zeigt Dieter Degowski mit Silke Bischoff, einer Geisel aus dem Bus, vor der Raststätte, er hält sie mit seiner Waffe in Schach. Ein Reporter steht dabei. Er fragt: "Wie geht es Ihnen mit der Pistole am Hals?"

    „Vor laufenden Kameras verkündet Rösner, ab sofort "nur noch durch die Medien" sprechen zu wollen. Die Reporter stehen in einem Halbkreis um den Geiselnehmer, der seine Pistole locker unter den rechten Arm geklemmt hat und einen Hundert-Mark-Schein in die Kameras hält. (….) Reporter laufen durch das Bild, stellen sich neben den Geiselgangster und schreiben mit.“

    „…die wilde Fahrt geht weiter, Richtung Holland, die Journalisten versperren der Polizei den Weg. Irgendwann reiht sich ein Journalist in die Kolonne ein, in einem Taxi sitzend. Es ist Manfred Protze, Korrespondent der dpa im Büro Oldenburg.“

    „Rösner zielt auf ein Taxi, das schon eine zeitlang dicht neben dem Bus fährt und in dem er Verfolger von der Polizei vermutet. Doch die hält sich weiterhin im Hintergrund, im Taxi sitzt Manfred Protze, Reporter der Deutschen Presse-Agentur.“

    „Weil Rösners Freundin Marion Löblich auf Toilette muss, hält der Bus gegen 22.50 Uhr an der Raststätte Grundbergsee. Andrea B. und Reinhold A. sollen frei gelassen werden – im Austausch bieten sich Pressefotograf Peter Meyer und der Hamburger Journalist Wolfgang Kempf an.“

    „Eine journalistische Regel für eine gute Geschichte ist: Mit einem Erdbeben anfangen, und sich dann langsam steigern. Beim Geiseldrama tun die Journalisten alles dafür, dass es eine gute Geschichte wird.“

  • L
    Lillie

    TAZ klingt irgendwie auch nach Neid. Hätte mir eine ausgewogeneren Kommentar gewünscht.

     

    Wäre man selbst investigativ vor Ort gewesen, hätte man gleichfalls und in gleicher Weise darüber berichtet. Was soll man sonst tun, es etwa totschweigen?

     

    Genau darin scheint mir das Problem begründet, mit "Terroristen" redet man ja generell nicht, setzt sich auch nicht mit denen an virtuelle Tische noch an reelle - so die landläufigen obligatorischen Verkündigungen der politischen Eliten.

    Gleiches Problem derzeit in Syrien. Da weigert sich Syriens Staatschef überhaupt mit den bürgerlichen Rebellen (sind dort nämlich auch Terroristen) zu reden und gefährdet lieber Staat und Volk durch einen Bürgerkrieg. Israel redet auch nicht, sondern bombardiert.

     

    Kann schließlich hier nur dem Kommentar Ulis zustimmen: Wer mit den Gegnern redet, verhindert in dieser Zeit, dass er weitere Taten, Mord und Totschlag verübt oder andere verletzt. Diplomatie sollte wieder Schule machen und Dialoge wieder an die Tagesordnung.

  • T
    T.A.

    Terror erzeugt mehr Terror. Und unsere kollektive Antwort darauf ist: mehr Terror natürlich!

  • U
    Uta

    Ganz ehrlich kann ich nicht verstehen, was das Filmen eines Statements eines Attentäters mit einem wirklichem Gespräch gemein haben soll. Aber noch weniger kann ich verstehen, dass die taz einerseits dieses Verhalten kritisiert, andererseits aber dieses Foto - mit blutigem Beil und in Farbe! - auf der Titelseite bringt. Hätte ich kein Abo würde ich so eine Ausgabe nicht kaufen.

  • C
    chris

    Ein zufällig vor Ort mit dem Mobiltelefon auf eine schreckliche und viele Fragen aufwerfende Situation reagierender Mensch wird mit einer Meute von sensationsgierigen, bezahlten und (vermutlich) ausgebildeten Journalisten verglichen, die sich tagelang als Begleittross an Schwerverbrecher hefteten und diesen eine Bühne boten?

     

    Die damals bewußt sich in die Situation begebenden Journalisten, die vermutlich die Situation verschärften, die Täter umringten und begleiteten, um nur nichts zu verpassen von der Sensation des Mörders mit der Waffe am Kopf einer jungen, hübschen Frau, sollen mit einem Mann aus einem Bus auf dem Weg verglichen werden?

     

    Schwer zu verstehen, dass man einen solchen Schlenker überhaupt versucht und tragisch, wenn man den hier präsentierten Blick auf den Beruf mit dem Zufallsfilm eines Zeugen vergleicht, der sich den Tag vermutlich anders vorgestellt hatte.

     

    Schade, solche Artikel in der TAZ lesen zu müssen.

  • G
    Gregor

    Gladbeck war so:

    In Köln kam es zu fragwürdigem Verhalten seitens der Journalisten, als diese gegen 11 Uhr inmitten von Passanten in der Fußgängerzone Breite Straße in der Kölner Innenstadt das Fluchtauto mit den Straftätern sowie den Geiseln umlagerten und Liveinterviews führten. Darunter war auch der spätere Fernseh-Moderator Frank Plasberg, der ein Interview mit Rösner führte. Der verantwortliche Redakteur des SWF entschied allerdings, das Interview nicht zu senden.

     

    Einige Journalisten boten sich als Lotsen an und zeigten den Geiselnehmern Fotos von Polizisten, damit sie den Verbrechern bei einem möglichen Austausch der Geiseln nicht untergeschmuggelt werden konnten. Besonders negativ fiel der Express-Reporter und spätere Bild-Chefredakteur Udo Röbel auf. Er bot sich an, die Geiselnehmer im Fluchtwagen bis zur nächsten Autobahnauffahrt zu lotsen und fuhr zwischen Köln und der Raststätte Siegburg im Fluchtfahrzeug mit. Dabei wetteiferten zahlreiche Journalisten um die besten Bilder und folgten dem Fahrzeug der Geiselnehmer im Autopulk.

     

    Journalisten brachten den von Degowski im Bus angeschossenen, bereits verblutenden Emanuele zum Notarzt. Allerdings hielt ein Reporter den herabhängenden Kopf des schwerverletzten Jungen noch einmal fotogerecht in die Kamera.

     

    RTL bestätigte spaeter, dass die Täter für Hintergrundgespräche zu dem Film eine „Aufwandsentschädigung“ erhielten

  • AX
    Alex X.

    @Ted:

    kommt drauf an, was Du mit "die Sache" meinst.

    Die Situation in Afghanistan oder dem Irak ist kompliziert, absolut richtig.

    Der Mord an einem Menschen ist ganz einfach nur falsch. Und das ist nicht kompliziert. Das sage ich auch auf die Gefahr hin jetzt als "einfach" beschimpft zu werden.

  • D
    DerDemokrator

    Die Medien hätten die Aufgabe Bilder zu zensieren, jawohl in solchen Fällen bedeutet Verantwortung übernehmen "Grausamkeiten vorzuenthalten" um nicht irgendwelchen Trittbrettfahrern ein Podium zu bieten. Es ist längst durch Studien nachgewiesen,das gezeigte Gewalt weitere Gewalt erzeugt.

     

    Davon profitieren können nur Täter und deren Unterstützer.

     

    Ciao

    DerDemokrator

  • AG
    Anton Gorodezky

    Im Unterschied zu Gladbeck haben hier zufällig anwesende Passanten gefilmt und keine (professionellen) Journalisten.

     

    Außerdem ist es gut, dass jeder sich selbst anhören kann, was die Attentäter nach eigenen Aussagen zu ihrer Tat gebracht hat. In der gestrigen 20-Uhr-Ausgabe der Tagesschau wurde der Ausschnitt des Amateurvideos gezeigt, in dem der Täter sich bei den Frauen und Kindern entschuldigt, die das ansehen mussten. Erst fast in der Abmoderation fällt mal ein Wort darüber, dass da möglicherweise ein islamistischer Hintergrund vorliegt - und ich wette darauf hätte man auch gern noch verzichtet, hätte man im Anschluss nicht über muslimfeindliche Taten als Reaktion auf den Mord berichten wollen. Hat man bei Breivik oder der NSU so versteckt von ihren Beweggründen erzählt?

     

    Ich finde es gar nicht übel, dass diesen Tätern ein Podium gegeben wird. Sollen die Menschen ruhig erfahren, woher er die Rechtfertigung für seine Taten bezieht. Und zwar ohne Vorfilter durch den Pressekodex.

  • HL
    Heike Lindenborn

    Was machten die Medien bloß, wenn es weder Mord/Kriege noch Hungersnöte gäbe. Auch die Ehrenamtlichen würden sich ja zu Tode langweilen.

    Hier ein Zitat von Gandhi: "Es ist genug da für die Bedürfnisse aller, aber nicht für ihre Gier."

  • T
    Ted

    TAZ, den Artikel finde ich wieder nicht gut. Man kann doch diesen Fall nicht mit Gladbeck vergleichen. Hier filmt eine zufällig am Tatort befindlicher Privatperson, was ihm vor sein Telefon kommt.

     

    Dagegen war Gladbeck deshalb so abstoßend, weil es sich um ausgebildete Journalisten handelte. Aus reiner Geldgier wurden damals diese zwei miesen Verbrecher von einer Traube Medienmenschen regelrecht hofiert ("Herr Rösner dies", "Herr Rösner jenes", widerlich). Ausgebildete Journalisten sollten doch wohl so ausbildet sein, um sich auch in Extremsituationen angemessen zu verhalten.

     

    Außerdem bin ich sehr froh, dass ich die Ansichten der Attentäter ungefiltert zu hören bekomme. Jeder kann sich nun seine eigenen Gedanken über das Massaker machen. Mehr möchte ich öffentlich dazu nicht sagen, die Sache ist kompliziert. Nur für die einfachsten Menschen unter uns zeigt sie sich einfach und übersichtlich.

  • DU
    Der Uli

    In der Zeit, in der ein ... Mörder? Terrorist? ... ein Täter redet, weil man ihm zuhört, kann er keine weiteren Taten begehen. Also ist es gut, wenn jemand ... den Mut? den Irrsinn? ... meinetwegen die Neugier, das berufliche Interesse oder sonstwas ... aufbringt, zu reden.

     

    Besser wäre nur: Mit dem ... Mensch! zu reden, bevor der zum Täter wird.

     

    diese "Vereinbarung" ist falsch.

     

    Zu hoffen ist, daß sich immer wieder Menschen finden, die lieber reden