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Attacke in Zug bei BrokstedtMesserstecher kam aus der U-Haft

Der Mann, der zwei Menschen erstochen haben soll, war gerade aus der U-Haft entlassen worden – offenbar unvorbereitet und in die Obdachlosigkeit.

Tatort am Bahnhof Brokstedt: Ein Freund des getöteten 19-Jährigen legt Blumen ab Foto: Marcus Brandt/dpa

Kiel/Hamburg taz | Es bleiben viele offene Fragen nach dem tödlichen Angriff am Mittwoch in einem Regionalzug bei Brokstedt, einem Örtchen in der Nähe von Neumünster. Dort starben eine 17-jährige Schülerin und ein 19-Jähriger, beide aus der Region. Beide kannten einander, gingen auf die gleiche Schule in Neumünster. Fünf weitere Menschen wurden verletzt, zwei davon lebensgefährlich.

Ein Mann wurde als Täter festgenommen, weitere Mitreisende überwältigten den 33-Jährigen. Der Mann, Ibrahim A., stammt aus Palästina und gilt als staatenlos. Es sei „ganz schrecklich“, was da geschehen sei, sagte Schleswig-­Holsteins Innenministerin ­Sabine Sütterlin-­Waack am Donnerstagnachmittag bei einer Pressekonferenz in Kiel. Gleichzeitig warnte die CDU-­Politikerin vor „Vermutungen und Spekulationen“. Die Tat sei zu frisch, die Erkenntnisse reichten nicht aus für „politische Schlussfolgerungen oder Forderungen“.

Was genau passiert ist am Mittwoch um kurz vor 15 Uhr in dem Zug, der von Kiel nach Hamburg unterwegs war, konnten der Polizeichef von Itzehoe, Frank Matthiesen, und der Oberstaatsanwalt beim dortigen Amtsgericht, Carsten Ohlrogge, bei der Pressekonferenz noch nicht sagen, schließlich seien noch nicht alle Zeu­g*in­nen vernommen.

Nur so viel sagte Matthiesen: „Es war eine chaotische Situation.“ In vier Waggons des vollbesetzten Zuges wurde Blut gefunden, zwei Dutzend Zeu­g*in­nen hat die Polizei bisher vernommen.

Bis vergangene Woche in Hamburg in U-Haft

Die Be­am­t*in­nen waren wenige Minuten nach dem Alarm vor Ort. Der mutmaßliche Täter war da schon von Personen im Zug überwältigt worden. Als die Polizei ihn festnahm, „machte er einen ruhigen Eindruck“, sagte Matthiesen. Auf die Nachfrage, ob der Mann verwirrt gewesen sei, sagte er: „Wer sieben Menschen verletzt, ist in der ­Regel zumindest in dem Moment nicht normal.“

Ohlrogge wollte ein politisches Motiv nicht ganz ausschließen: „Wir ermitteln in alle Richtungen.“ Aber in der ­Regel gebe es Hinweise bei einem terroristischen Hintergrund – in diesem Fall fehlten sie.

Ibrahim A. war 2014 nach Deutschland eingereist und hatte 2015 in Nordrhein-Westfalen Asyl beantragt. Im Juli 2021 war er nach Kiel gekommen, wo er in einer Gemeinschaftsunterkunft lebte. Im November hatte er dort Hausverbot bekommen, berichtete der für Ordnungsfragen zuständige Kieler Stadtrat Christian Zierau. Ibrahim A. soll Mit­be­woh­ne­r*in­nen belästigt und gegen Hausregeln verstoßen haben. Die Beratungsstelle für Wohnungslose habe ihn noch eine Weile „auf dem Schirm gehabt“, dann verlor sich seine Spur in Richtung Hamburg.

Von Januar 2022 bis 19. Januar­ 2023 saß A. dort in Untersuchungshaft wegen einer Körperverletzung. Ibrahim A. hatte in einer Schlange vor der Essensausgabe in der Hamburger Obdachlosenunterkunft Pik As einen Mann mit einem Messer angegriffen und verletzt. Dabei habe er diesem mehrere Schnittwunden, unter anderem am Hals zugefügt, sagte Kai Wantzen von der Hamburger Gerichtspressestelle. Das Opfer sei acht Tage lang stationär behandelt worden.

Schon früher straffällig geworden

Die einjährige Dauer von A.s U-Haft entstand dadurch, dass ihn das Hamburger Amtsgericht St. Georg im August 2022 zu einem Jahr und einer Woche Haft wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls verurteilt hatte und A. dagegen Berufung einlegte. Weil das Hamburger Landgericht deshalb Nachermittlungen anordnete, blieb er weiter in U-Haft. Eine Richterin am Hamburger Landgericht entschied, diese schließlich zu beenden, als er mit der U-Haft die höchstens zu gewärtigende Strafe abgesessen hatte.

Schon früher war A. straffällig geworden, es ging um Diebstahl und Bedrohung. Doch trotz der Vorstrafen und des nicht rechtskräftig abgeurteilten Falls in Hamburg, galt der 33-Jährige nicht als „Serien-“ oder „Intensivtäter“, machte Staatsanwalt Ohlrogge klar: „In Schleswig-Holstein ist er nie verurteilt worden, auch in Hamburg war es seine erste Haft.“

Ibrahim A. hatte in Deutschland einen subsidiären Schutzstatus. Den erhalten Geflüchtete, die kein Asyl bekommen, deren Ausweisung aber Hindernisse im Weg stehen. Allerdings sei während seiner Haftzeit die entsprechende sogenannte „Fiktionsbescheinigung“ ausgelaufen, teilt die Stadt Kiel mit.

Außerdem stand die Kieler Ausländerbehörde in Kontakt mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wegen eines so genannten Rücknahmeverfahrens, das seinen Schutzstatus beendet hätte. Doch einen Staatenlosen abzuschieben scheitert oft daran, dass nicht klar ist, welches Land ihn aufnehmen sollte.

Ohne Vorkehrung aus der Haft entlassen

Auf die Frage, ob ein Wohnungsloser, der schlecht Deutsch spricht und möglicherweise verwirrt ist, ohne Vorkehrungen aus der Haft einfach so auf die Straße geschickt werde, verwies Ohlrogge auf den besonderen Status der U-Haft: „In einer Strafhaft kann man die Tat aufarbeiten oder eine Therapie anbieten. Aber wenn ein Gericht entscheidet, die U-Haft zu beenden, gibt es kein solches Verfahren.“

Wohin der Mann nach der Haft ging, ist unklar. Doch am Dienstag tauchte er in Kiel auf, um seinen Aufenthalt zu verlängern. Am Infopoint verwies man ihn an die Wohnungslosenhilfe und das Meldeamt. „Er machte keinen auffälligen Eindruck“, berichtet Stadtrat Zierau. Doch bei der anderen Stelle tauchte der Mann nicht auf. Stattdessen stieg er offenbar in Kiel in den Zug zurück nach Hamburg ein.

Bei seiner Festnahme war Ibrahim A. leicht verletzt – wie das passiert ist, konnte der örtliche Polizeichef Matthiesen nicht sagen. A. wurde vernommen und am Mittwoch dem Haftrichter vorgeführt.

Sütterlin-Waack und Justizministerin Kerstin von der Decken (CDU) wiesen auf Hilfsangebote für Zeu­g*in­nen der Ereignisse und Angehörige der Opfer hin. In ganz Schleswig-Holstein wehten am Mittwoch die Flaggen auf halbmast.

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