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Asoziale Medizin

Unser so genanntes Gesundheitssystem hat große Schwierigkeiten damit, gebrechlichen und dem Tode nahen Menschen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Eine kleine Erzählung in Form einer Krankengeschichte – anstelle einer Theorie

von PETER FUCHS

In und an einer Theorie sozialer Systeme zu arbeiten und sich faszinieren zu lassen durch Abstraktionsleistungen, die sich an die unfassbare Komplexität der Weltgesellschaft und ihrer primären Funktionssysteme heranwagen, und dies kühl und trocken zu tun, das ist eine Sache. Es ist eine andere Sache, erlebend hineinverwickelt zu werden in die nicht selten desaströsen, dysfunktionalen Prozesse, die gleichsam am Boden dieser Systeme gedeihen. Sie geben gelegentlich Anlass zu bodenlosem Zorn, den Theorien kaum zu lindern vermögen.

Das Krankheitssystem, das wir euphemistisch Gesundheitssystem zu nennen pflegen, hat zum Beispiel das sattsam bekannte Problem, nicht recht zu wissen, was es mit alten, gebrechlichen, vom Todesschatten schon berührten Menschen tun soll. Das medizinische Personal kann keine Wunder wirken. Es wäre überfordert, sollte es durch den Körper hindurch auch noch auf das schauen, worauf Psychologen, Sozialpädagogen oder Alters- und Sterbekundige zu achten hätten, wenn sie denn dafür bezahlt würden.

Dererlei flankierende Maßnahmen, die im Dienste eines anständigen und würdevollen Sterbens stünden, kann man sich mitunter an Universitätskliniken leisten, aber sie sind keine Selbstverständlichkeit. Sie sind Stoff, hier und da, für Vorlesungen an medizinischen Fakultäten. Sie sind wohlfeile Visionen, Thema für die Schwadroneure und Schwadroneusen des Ganzheitlichen, aber der Alltag sieht weitgehend anders aus. Er realisiert sich in Differenz zu Pflege- und Krankenhausleitbildern. Vielleicht darf ich’s erzählen, wie die Post abgeht, dort unten, im Bodensatz.

G., eine Dame, die ein gutes Stück über die biblischen Achtzig hinaus ist und bei ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn nebst deren Kinder lebt, behält nach einer Gürtelroseerkrankung, die nicht rechtzeitig erkannt wird, chronische Schmerzen zurück. Nach einiger Zeit wird sie, immer schon ein wenig grantig, depressiv. Wie stark oder schwach die Schmerzen in Wahrheit sein mögen, weiß keiner zu sagen, aber die niedergelassenen Ärzte reduzieren mehr und mehr die Schmerzmittel, die sie für zu stark oder zu gefährlich halten. Zwar führen Dauerschmerzen zu Depressionen; die Ärzte vermuten jedoch, dass die Depressionen umgekehrt eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit produzieren – ein Zirkel, in dem G., die ein Leben lang hart gearbeitet hat, ihr Debüt als Simulantin gibt.

Immer weniger Schmerzmittel werden verschrieben, immer mehr Antidepressiva. Die Kinder G.s konsultieren Schmerzkliniken, erst eine, dann eine andere, die verschiedene Medikamente verschreiben, aber keine psychologische Betreuung der alten Dame anbieten können. G. wird indessen immer hinfälliger. Sie sitzt nur noch in ihrem Sessel, starrt vor sich, grantelt. Ein Arzt und ein Apotheker raten zum archaischen Mittel der Besprechungen, die auch – trotz zaghafter Einwände des Schwiegersohns, der Wissenschaftler ist – durchgeführt werden: einmal telephonisch, einmal live. Eine Maßnahme von soziologischem Interesse, aber geringem Wirkungsgrad.

Ein Arzt empfiehlt Placebos. Das sei ja auch der Test darauf, ob G. wirklich wirkliche Schmerzen habe. Ethikfragen, die über eine Defektologie hinausgehen, scheinen ihm fremd zu sein. Zu allem Überfluss kommt ein Gebärmutterkrebs dazu, was eine Urangst von G. betrifft, da schon ihre Mutter und einige ihrer Geschwister an Krebs gestorben sind. Sie wird, wiewohl von einer Frau, männlich knapp und klar informiert. So liegen eben die Dinge. Keine Zeit, sich zu fassen. Dringend ist der Handlungsbedarf. Die Notwendigkeit einer Operation wird damit begründet, dass G. sicher noch fünf oder gar zehn Jahre leben könnte, wenn man den Eingriff vornähme. Das überzeugt, also wird gestochen, geschnitten und geschabt. Kurze Zeit darauf wird G. in eine Universitätsklinik zur Bestrahlung eingewiesen. Die Akten aus der ersten Klinik erreichen die zweite Klinik nicht, deshalb werden alle Untersuchungen noch einmal vorgenommen, das ganze Programm. Ergebnis: Von fünf oder gar zehn Jahren kann keine Rede sein. Man wolle auch kein volles Strahlungsprogramm mehr fahren. Das lohne nicht mehr. Also zweimal die Woche Bestrahlung – durch die Scheide. G. schämt sich furchtbar schon bei den Voruntersuchungen. Die Tochter will den Raum verlassen, soll aber, weil noch Papiere ausgefüllt werden, im selben Raum bleiben. „Sie sind doch die Tochter und eine erwachsene Frau!“

Übrigens muss G. jedesmal eingewiesen werden, obwohl sie nicht stationär behandelt wird. Irgendwelche Rituale haben zur Folge, dass sie Woche für Woche zweimal regelrecht aufgenommen werden muss. Das heißt: hinfahren zu einem Gebäude, in dem die Aufnahme stattfindet, stundenlanges Warten, Blut abnehmen. Von dort mit Krankenwagen 800 Meter weiter ins nächste Gebäude, stundenlang warten, bis bestrahlt wird. Dann nach Hause, dann wieder dasselbe. Bei alledem weiß G. nur halb, was los ist. Sie hört sehr schlecht, und das Klinikpersonal vergisst das in einem fort. Ansonsten flüchtige Betüttelung: „Na, wie geht’s uns denn heute?“ G. gerät in einen Zustand psychischer Dissoziation. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln, stechen, spiegeln, strahlen . . . das dreht, das wendet sich und hat kein Ziel.

Schließlich haben die Bestrahlungen aber doch aufgehört. G. ist wieder ganz zu Hause. Aber: Schmerzen schlimmer denn je, Depressionen schlimmer denn je, Granteln schlimmer denn je. Die alte Dame isst kaum noch. Sie wird immer schwächer, die Beine schwellen an. Erneute Einweisung in die erste Klinik zur symptomatischen Behandlung wegen Blutmangel. Die Ärzte versprechen feierlich: sonst nichts, nur Infusionen. „Sie werden sich fühlen wie Gott in Frankreich!“

Am zweiten Tag (wieder waren die Akten nicht greifbar) Magenspiegelung. Die Tochter regt sich auf, erinnert an das Versprechen. Der Stationsarzt sagt, bei Blutverlusten müsse man halt suchen, aber jetzt werde weiter nichts mehr gemacht. Am vierten Tag Darmspiegelung. G. sagt, es war ein furchtbares Erlebnis. Die Tochter stellt wütend die Stationsärztin zur Rede. „Sind Sie die Betreuerin, oder was?“, fragt die Ärztin, die alte Dame habe doch zugestimmt.

Die Tochter erklärt, dass G. aus einer Generation stamme, in der die Weißkittel Götter waren. Sie würde niemals einem Arzt widersprechen. Das sei biografisch, wenn auch nicht logisch erklärbar. Aber: Achselzucken. Ein Machtkampf deutet sich an. Es soll noch mehr gemacht werden, und so könne man die Patientin nicht entlassen. Die Tochter gibt ebenfalls ein Debüt: Sie ist nun notorische Querulantin.

Der Hausarzt G.s rät dem Schwiegersohn, von seinem akademischen Titel Gebrauch zu machen. „Lassen Sie sich von Ihrem Sekretariat mit dem Leiter der inneren Abteilung verbinden, mit Prof. Dr. X!“

Das geschieht. Die berufstypische Beschwerdemacht muss nicht einmal angedeutet werden. Man versteht sich unter seinesgleichen. Selbigen Nachmittags ist G. wieder zu Hause. Vorher überschlägt sich das Pflegepersonal vor Liebenswürdigkeit. Die zuständige Ärztin entschuldigt sich. Man habe nicht die richtigen Informationen gehabt.

Der Hausarzt erklärt später, dass die jungen Ärzte bei der Visite den Chefärzten etwas anbieten müssen. Die Hierarchie verlange, dass Vorschläge für Behandlungen gemacht und dann abgenickt werden. Was aber tut ein Angehöriger, der keinen Titel hat? Vermutlich das Pflegeleitbild studieren. Es hängt im Flur: goldfarbener Messinggrund, solide Verschraubung, feudale schwarze Lettern, ein Dekalog hehrer Selbstverpflichtungen.

G. ist jetzt ganz und gar Pflegefall. Die Kinder, noch unerfahren, schalten Pflegedienste ein. Sie erfahren, was eine kleine und eine große Morgentoilette ist und wieviel das jeweils kostet. Fußpflege ist nicht im Katalog, aber eine lange Reihe hygienischer Maßnahmen. Waschen ist das Wichtigste, Reden wird kaum bezahlt. Vielleicht geht es nicht um würdevolles, sondern um sauberes Sterben.

G. hat immer noch Schmerzen, schlimmer denn je, Depresssionen schlimmer denn je, aber granteln kann sie nicht mehr. Sie ist stumm geworden. Freund Hein hat ans Haus geklopft, er wird bald drinnen sein. Vermutlich ist er gnädiger als das leitbildgestylte System.

P.S. Freund Hein war gnädig. Kurz vor Weihnachten schlummerte G. im Kreis ihrer Familie hinüber in das Land hinter dem Wind.

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