Arzt über Flüchtlingslager in Libyen: „Es sind Orte voller Gewalt“
Misshandlungen und Vergewaltigungen: Arjan Hehenkamp von Ärzte von Grenzen berichtet von grauenhaften Zuständen in libyschen Lagern.
taz: Herr Hehenkamp, Médecins Sans Frontières (MSF) ist eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen, die Zugang zu den Internierungslagern für Flüchtlinge in Libyen haben. Wie muss man sich die Situation dort vorstellen?
Arjan Hehenkamp: Wir arbeiten in sieben dieser Lager. Wie viele es insgesamt gibt, weiß niemand. Es sind keine Internierungseinrichtungen, wie man sie in Europa kennt, sondern verlassene Lagerhäuser oder Fabrikgebäude. In der Regel sind dort mehrere Hundert Menschen eingesperrt. Teils wurden sie in Libyen festgenommen, weil sie keine Papiere haben, teils wurden sie auf dem Weg nach Europa abgefangen und wieder zurückgebracht.
In einem Bericht an das Auswärtige Amt sprachen deutsche Diplomaten kürzlich von „KZ-ähnlichen“ Zuständen in diesen Lagern. Ist das angemessen?
„KZ“ ist ein großes Wort, vor allem in Deutschland. Wir bekommen viele Berichte von den Menschen, die von den Besatzungen unserer Schiffe im Mittelmeer aus Seenot gerettet werden. Viele von ihnen haben in Lagern gesessen, in denen wir nicht arbeiten. Dort ist es teils noch schlimmer. Die Menschen bestätigen, dass die Bedingungen dort absolut grauenhaft sind. Sie sprechen von schwersten Misshandlungen, Vergewaltigungen. Die Insassen werden willkürlich festgehalten, sie wissen nie, wann sie freikommen. Sie werden in sehr kleine Räume gesperrt, es gibt kaum Luft, Licht und Wasser. Es sind Orte voller Gewalt, niemand dürfte dort festgehalten werden. Doch dorthin werden die Menschen zurückgeschickt, wenn die neuen Beschlüsse der EU aus Malta umgesetzt werden.
Wer kontrolliert die Lager, zu denen Sie Zugang haben?
Offiziell unterstehen sie der staatlichen Immigrationsbehörde, aber die hat keine Kontrolle dort. Tatsächlich werden sie von bewaffneten Gruppen betrieben, die jeweils ihre eigene Führung und ihre eigenen Interessen haben.
Welche Interessen sind das?
Sie betreiben ein kriminelles Geschäft mit Erpressungen. Die Leute müssen sich freikaufen. Die Lager haben eine Art Belegungsminimum. Wenn, wie jetzt im Winter, weniger Transitmigranten nachkommen, werden andere Ausländer verhaftet, die regulär im Land leben. Dieses Geschäft ist sehr genau dokumentiert.
Handelt es sich um die gleichen Gruppen, die an der Küste das Schleppergeschäft betreiben?
Das wissen wir nicht.
Warum gewähren diese Milizen ihnen Zugang?
Wir haben lange Verhandlungen geführt und um Akzeptanz für unsere Arbeit geworben. Das dürfte aber nicht der entscheidende Grund gewesen sein.
Sondern?
Die Milizen haben ein Interesse daran, dass es eine minimale Gesundheitsversorgung gibt. Mit lebenden Migranten können sie Geld verdienen, mit toten nicht.
Die EU will jetzt, dass die UN-Flüchtlingshilfe (UNHCR) und die Internationale Organisation für Migration (IOM) „angemessene Aufnahmekapazitäten und -bedingungen für Migranten in Libyen“ schaffen. Ist das möglich?
Die EU tut so, als sei Libyen ein normales Land, aber das ist nicht der Fall. Die Regierung hat keinerlei Kontrolle. Milizen mit ganz unterschiedlichen Interessen üben die Gewalt aus. Die EU weiß das genau, deswegen schickt sie nicht einmal ihre eigenen Diplomaten dorthin. Die EU-Delegation für Tripolis sitzt in Tunis. Aus demselben Grund haben auch die IOM und der UNHCR nur eine extrem kleine Präsenz in Libyen. Die Pläne, die die EU in Malta beschlossen hat, ergeben keinen Sinn. Seit über einem Jahrzehnt ist die Erpressung von Migranten in Libyen ein Riesengeschäft, und jeder macht dabei mit. Das will die EU nun verändern, aber das ist unvorstellbar, wenn sie gar keine Präsenz vor Ort hat. Sie hat keine Möglichkeit, „angemessene Aufnahmekapazitäten“ zu schaffen.
Mit wem, glauben Sie, wird die EU versuchen, ihre Pläne umzusetzen?
Wir haben keine Ahnung. Wahrscheinlich mit dem Government of National Accord, der von der EU anerkannten Regierung. Aber ich bezweifle stark, dass die irgendwas umsetzen können.
Wenn nicht mal die EU sich dorthin traut – wie hält MSF dort Präsenz?
Wir haben ein Team vor Ort. MSF arbeitet grundsätzlich ohne Bewachung. Wir versuchen, bei der dringend notwendigen Fortführung der humanitären Hilfe nicht aufzufallen. Das Interview, das ich Ihnen gerade gebe, widerspricht dieser Strategie. Wir sind deshalb ein bisschen nervös. Aber wir glauben, dass das in dieser Situation nötig ist.
Lesen Sie hier auch die Reportage von Mirco Keilberth aus Libyen „In den Händen der Schmuggler“!
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