Arzt über Drogenkrise in Syrien: „Die erste Dosis ist kostenlos“
Meth und Captagon bieten vielen Menschen in Syrien eine Flucht aus dem Alltag. Die Folgen sind gravierend, warnt der Arzt Feras Fares.
taz: Herr Fares, Sie arbeiten als Arzt im Nordwesten Syriens, der weiterhin nicht vom Assad-Regime kontrolliert wird. Die humanitäre Lage dort gilt als katastrophal, nun mehren sich Berichte von einer Drogenkrise. Was hat es damit auf sich?
Feras Fares: Dieses Gebiet ist mehr oder weniger den türkischen Behörden unterstellt. Es gibt dort viele Flüchtlingslager, die nicht gut versorgt sind. Daten der Hilfskoordinierungseinheit der syrischen Übergangsregierung zeigen, dass einer von drei jungen Menschen zwischen 16 und 32 Jahren in der Region suchtkrank ist.
arbeitet als Gynäkologe und ist Programmleiter der Independent Doctors Association. Die Organisation mit Sitz in der türkischen Stadt Gaziantep betreibt mehrere Kliniken im Nordwesten Syriens, der von Milizen kontrolliert wird, die unter dem Einfluss der Türkei stehen.
Um welche Art von Sucht handelt es sich?
Vor allem bei Kindern ist das Schnüffeln von Klebstoff verbreitet, was sehr schädlich für ihr neurologisches System ist. Dann gibt es noch das amphetaminartige Aufputschmittel Captagon, das vor allem aus den vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten stammt. Captagon ist mit Meth das Hauptproblem in diesem Gebiet.
Warum sind diese Substanzen so weit verbreitet?
Unter den Lebensbedingungen des Kriegs nimmt Drogenabhängigkeit schnell zu, das können wir überall auf der Welt beobachten. Im Nordwesten Syriens ist dies auch auf die psychische Verfassung der Menschen in den Lagern zurückzuführen. Sie haben keine Perspektive, keine Arbeit. Drogen bieten eine Möglichkeit, die Situation zu vergessen, in der man lebt.
Welche Auswirkungen hat der Drogenkonsum auf die humanitäre Lage in der Region?
Der Konsum von Drogen verschlechtert den Gesundheitszustand vieler Menschen massiv. Auch die sozialen Folgen sind verheerend. Im Nordwesten Syriens hat die Zahl der Verbrechen zugenommen, der Anstieg von Raubüberfällen und Morden ist spürbar. In einigen Gebieten brechen die familiären und gemeinschaftlichen Strukturen zusammen und die Menschen werden abhängig von humanitärer Hilfe. Dazu kommt, dass es in der Region kein spezialisiertes Zentrum zur Behandlung von Drogenmissbrauch gibt.
Meinen Sie Rehabilitationskliniken?
Es geht nicht nur um die medizinische Behandlung, sondern auch um die soziale Wiedereingliederung: Programme, die auf die Sucht abzielen und psychosoziale Unterstützung anbieten. Das ist im Nordwesten Syriens nicht verfügbar, auch weil die Geldgeber, die die Region unterstützen, nur Nothilfe leisten und sich nicht in langfristigen Wiederaufbauprojekten engagieren.
Wie sichtbar sind Drogen im täglichen Leben auf den Straßen und in den Lagern im Nordwesten Syriens?
Auf den Straßen ist der Konsum nicht so sichtbar. Aber die Substanzen sind leicht zu bekommen, weil die Dealer in den Lagern allen bekannt sind. Was die Sache noch komplizierter macht, ist, dass sich die Verantwortlichen in den Flüchtlingslagern vermutlich am Geschäft beteiligen. Aber darüber haben wir keine genauen Informationen.
Was sind die Preise für eine Captagonpille oder ein Gramm Meth?
Sehr, sehr billig. Für eine Captagonpille, glaube ich, weniger als 10 Cent. Meth wird dort hergestellt und ist noch billiger. Dealer verfolgen die Strategie, dass die erste Dosis Meth für Endnutzer kostenlos ist, um sie anzufixen.
Sie haben beschrieben, wie der Nordwesten Syriens betroffen ist. Haben Sie Erkenntnisse zum Rest des Landes?
Wir haben nur begrenzte Informationen über die Lage in den Gebieten des syrischen Regimes. Aber nach dem, was wir hören, könnte die Zahl der Fälle dort doppelt so hoch sein. Die humanitäre Lage und auch die Lebensbedingungen sind dort sehr schlecht. Die Substanzen sind sehr billig, vor allem auch, wenn man sie zum Beispiel mit dem Preis von Zigaretten vergleicht. In ganz Syrien wird es immer verbreiteter, Drogen zu nehmen. Und es gibt Gerüchte, dass das Regime an der illegalen Verbreitung beteiligt ist.
Recherchen der britischen BBC haben gezeigt, dass die syrische Regierung vom Drogenhandel profitiert. Ist das im Land allgemein bekannt?
Ja, alle wissen, dass das Regime am Drogenhandel mitschuldig ist. Syrien wurde (im vergangenen Mai; d. Red.) wieder in die Arabische Liga aufgenommen, doch das hatte Bedingungen: Die erste war, dass Syrien den Export von Drogen wie Captagon in andere arabische Länder stoppt, weil dies dort die nationale Sicherheit gefährdet. Es gibt zahlreiche Berichte, nach denen Mitglieder der syrischen Staatsführung mit dieser Art von Drogenhandel in Verbindung gebracht werden.
Wie gehen Sie in Ihren Einrichtungen klinisch mit suchtkranken Menschen um?
Wir haben Anfang 2023 begonnen, uns mit mehr Nachdruck mit diesem Problem zu befassen, nachdem wir in den Lagern, in denen wir arbeiten, mit mehreren Fällen von Drogenabhängigkeit und auch damit verbundenen Selbstmordversuchen konfrontiert waren. Wir betreiben 17 Zentren für die medizinische Grundversorgung in den Lagern und außerdem mehrere mobile Kliniken. Mit unseren Mitteln versorgen wir hauptsächlich syrische Binnenvertriebene. Leider konnten wir nicht genügend Mittel akquirieren, um ein spezialisiertes Zentrum für stationäre Suchtpatienten einzurichten.
Was bräuchten Sie, um den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Drogenmissbrauch in der Region gerecht zu werden?
Wir sehen das Ausmaß dieses Problems täglich mit eigenen Augen. Wir haben soeben eine Strategie entwickelt und sie mehreren Geldgebern zukommen lassen. Wir sollten ein spezialisiertes Zentrum einrichten, das das gesamte Paket an medizinischer und psychologischer Unterstützung bietet, aber auch eine Wiedereingliederung in die Gemeinschaft ermöglicht.
Für längerfristige Lösungen wären wohl auch politische Ansätze nötig. Verfolgen Sie da auch bestimmte Ziele?
Medizinische Lösungen sind sicher nicht die alleinige Antwort. Und trotzdem können wir als Gesundheitsdienstleister hier im Nordwesten Syriens nicht die alles umfassende Lösung liefern. Aber auch das habe ich gerade schon erwähnt: Wenn wir nicht in jedem Bezirk im Nordwesten Syriens ein spezialisiertes Zentrum aufbauen, wird der Drogenmissbrauch innerhalb kürzester Zeit zu einer noch massiveren Angelegenheit werden. Das Drogenproblem breitet sich sehr stark aus. Auch die Behörden müssen geschult werden: Sie müssen lernen, wie man mit dem Stigma der Sucht umgeht, wie man den Betroffenen nicht noch mehr schadet. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen in diese Lage gekommen sind, weil sie höchst vulnerabel sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz