Armenische Minderheit in Syrien: Aleppo, tragische Schönheit
Die syrische Stadt Aleppo war Heimat vieler verfolgter armenischer Christen. Mit ihrer Zerstörung droht auch das kulturelle Erbe zu verschwinden.
„Ganoven und kleine Halunken, Gaffer und Profiteure. Mister, welcome, just have a look, no taxes, tea for free. Der Suk ist ein Labyrinth.“ Diese Zeilen schrieb der Schweizer Archäologe und Autor Ivo Zanoni, als er um die Jahrtausendwende das letzte Mal in Aleppo war. Das war vor dem Krieg. Nun ist der Suk, der kilometerlange, weitverzweigte Basar der Aleppiner, das Unesco-Weltkulturerbe, zerstört. Kleidung wurde hier lautstark gehandelt, Gemüse, Obst und Gewürze. Tonnenweise Gewürze, sie erfüllten die Gassen mit orientalischen Düften, schwängerten die Luft. Als der Krieg kam, sind die Händler und ihre Kunden in Scharen geflohen, Richtung Norden, in die Türkei, auch nach Europa.
„In Aleppo zu erwachen ist ein Glück. Türkei, Arabien, Kurdistan, Armenien, Mesopotamien, Europa, Libanon, hier trifft sich einfach alles, Wüstensöhne in festlichen Wintermänteln“. Ivo Zanoni war fasziniert von Aleppo, von der Multikulturalität der zweitgrößten syrischen Stadt, vom friedlichen Miteinander der Religionen und Ethnien. All das liegt nach bald vier Jahren Bürgerkrieg in Trümmern.
„Ich hatte viele muslimische Nachbarn und Freunde in Aleppo“, erinnert sich Tsola Demirjian an die Zeit vor dem Krieg, vor ihrer Flucht, die sie bis nach Berlin führte. Demirjian kommt aus einer christlichen Familie, sie ist Armenierin. Ihre Herkunft, ihre Religion waren akzeptiert. Bis der Bürgerkrieg in ihrer Heimatstadt entbrannte. Immer wieder stockt sie beim Erzählen, seufzt, neigt den Kopf. Ihr rotes Haar fällt über die Schulter. „Wir besuchten unsere Nachbarn, aßen zusammen. Eine muslimische Freundin von mir ist manchmal mit mir in die Kirche gekommen.“
Im Bürgerkrieg gerieten die Armenier zwischen die Fronten eines Konfliktes, der sich zunehmend religiös und ethnisch auflud. Auf einmal hieß es: „Du bist ein Armenier, ich werde dich töten“, erinnert sich Tsola Demirjian. Die meisten der islamistischen Rebellen seien nicht aus Aleppo gekommen, meint sie. Sie seien bewusst eingeschleust worden, aus Saudi-Arabien, der Türkei, um das politische System zu destabilisieren. Der radikale Islam hätte nie zu Aleppo gepasst, in diese liberale Stadt, diesen Schmelztiegel der Vielfalt.
Kirchen wurden angesteckt
Tauben haben die Armenier in Aleppo gezüchtet, bevor der Krieg kam. Dafür war die Stadt bekannt. Zu Tausenden kreisten sie über die Dächer, wurden in Wettbewerben verglichen und ausgezeichnet. Die Bibel berichtet, dass schon Noah eine Taube fliegen ließ, um das Ende der Sintflut festzustellen. Die armenischen Christen haben die Symbolik aufgegriffen, zum Vardavar-Fest, einem Ritual zoroastrischen Ursprungs, lassen sie Tauben aufsteigen, um an die Geschichte von Noahs Arche zu erinnern. Und um sich zu vergewissern, dass jede Sintflut einmal endet.
Das friedliche Miteinander von unterschiedlichen Kulturen und Glaubensgemeinschaften in Aleppo war vor allem für die Armenier wie eine Auferstehung nach der „Aghet“, der „Katastrophe“, so nennen viele Armenier den Völkermord an ihren Vorfahren. Hundert Jahre ist das her. Nun verlieren die Armenier von Aleppo erneut ihre Heimat. Kirchen wurden angesteckt, jahrhundertealte, kostbar verzierte Bücher verbrannt, Altäre zerschmettert. Die Täter: mutmaßlich die Freie Syrische Armee (FSA), die in großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit als Befreier von der Tyrannei Assads galten. Das Geld und die Waffen der FSA kamen auch aus dem Westen – ignoriert wurde daher bei den Waffenverkäufen die Verbindung der Rebellen-Opposition zu salafistischen Kräften.
Wer in Aleppo im Krieg nicht sein Leben verlor, verlor seine Existenzgrundlage. So wie Tsola Demirjians Familie. Die 42-Jährige sitzt auf der Terrasse des armenischen Kulturzentrums in Berlin, jeden Freitag kommt sie hierher. 60.000 Armenier lebten vor dem Krieg in Aleppo, heute seien es noch 8.000, schätzt sie und erzählt die Vertreibungsgeschichten ihrer Familie. Die von jetzt. Und jene von damals: Ihr Großvater stammte aus Urfa, das heute in der Türkei liegt. In einer Holztruhe transportierte er, selbst nur zehn Jahre alt, seine kleine Schwester Hovagim Anusch während der Massaker und Vertreibungen durch die Osmanen vor einhundert Jahren von Urfa bis nach Deir al-Sor – aus Angst davor, dass das kleine Mädchen verschleppt wird. Eine Strecke von rund 300 Kilometern. Die zwei überlebten den Pogrom.
Deir al-Sor wurde für die Armenier zum kollektiven Trauma: In Konzentrationslagern wurden dort im Jahr 1915 Hunderttausende Menschen vernichtet, in Höhlensystemen wurden sie bei lebendigem Leibe verbrannt, in der Wüste Mesopotamiens liefen sie sich zu Tode. Insgesamt fielen dem Völkermord mehr als eine Million Menschen zum Opfer, die Zahlen sind bis heute ein Politikum. Im völkisch-nationalistischen Weltbild des jungtürkischen Staates war kein Platz für Minderheiten; Kurden, Armenier und andere Volksgruppen passten nicht ins Bild einer homogenen Türkei. Der beginnende Erste Weltkrieg wiederum lieferte für die Vernichtungspolitik den perfekten Deckmantel.
Kollektives Trauma
Während des Krieges war Aleppo wichtiger Eisenbahnknotenpunkt und Durchgangsstation für Hunderttausende armenische Deportierte. Von hier aus wurden sie in Todesmärschen in die mesopotamische Wüste verschleppt. „Die Gendarmen trieben die elenden abgemagerten Geschöpfe, denen vielfach der Tod auf dem Gesicht geschrieben stand, mit Peitschenhieben vor sich her durch die Straßen Aleppos zum Bahnhof. (…) Die Einwohner der Stadt, die Wasser und Brot verteilen wollten, wurden daran gehindert.“ Das schrieb Walter Rößler, Konsul Aleppos, an den deutschen Botschafter in Konstantinopel. Doch die deutschen Verbündeten der jungtürkischen Regierung sahen die Vernichtung der Armenier als notwendig an, als „hart, aber nützlich“ bezeichnet Hans Humann, Marineattaché an der deutschen Botschaft in Konstantinopel, den Genozid.
Ungeachtet der Befehle seiner preußischen Vorgesetzten half Walter Rößler dabei, Armenier vor dem sicheren Tod zu bewahren. In Aleppo bildete sich ein Hilfsnetzwerk für Tausende armenische Waisenkinder, die Aleppiner versteckten eine bis heute unbekannte Zahl an Verfolgten. Aleppo wurde für die Armenier zum Fluchtpunkt. Zur Diaspora in Syrien. In den 80er Jahren kamen auch die Großeltern von Tsola Demirjian in die Stadt, in der die armenische Kultur bereits seit Jahrzehnten eine Renaissance erlebte.
Aleppo war einer der wenigen Orte, an denen in der Region armenische Bücher und Zeitungen gedruckt wurden. „Wir haben unsere Kultur frei ausgelebt, die Feste, den Glauben. Und wir hatten eigene Schulen, wo wir die armenische Sprache, die Geschichte und die christliche Religion unterrichtet bekamen. Auch christliche Araber sind in die Schulen gekommen.“ Tsola Demirjian spricht bewegt vom alten Leben vor dem Krieg.
Friedliche Koexistenz
Das Bild der friedlichen Koexistenz, wie sie es beschwört, sei keineswegs überzeichnet, sagt der syrische Historiker Issam Ballouz: Die Armenier hätten in Aleppo, wie auch im Großteil Syriens einen „Ruf der Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit“ genossen, sagt Ballouz. Das lag wohl auch an ihrer starken wirtschaftlichen Stellung: Die Armenier hätten viele technische Errungenschaften nach Aleppo gebracht, vom Röntgengerät über das Auto bis hin zum ersten Traktor. Das belegt der Historiker anhand von arabischen Texten aus dieser Zeit. Die Armenier etablierten auch das Dreherhandwerk, das Schweißen und Nieten. Neben Beirut im Libanon war Aleppo bis zum Bürgerkrieg das größte armenische Refugium an der Levante.
Als im Jahr 2012 der Bürgerkrieg begann, haben sich die Armenier, im Gegensatz zu vielen anderen ethnischen und religiösen Minderheiten Syriens, nicht mehrheitlich gegen das Assad-Regime gestellt. „Die Armenier in Aleppo haben darauf vertraut, dass die syrische Regierung schnell wieder die Oberhand gewinnt“, erinnert sich Harout Ekmanian, selbst Armenier, Journalist und Anwalt, Aleppiner bis vor einigen Jahren, heute New Yorker. Was vermissen Sie am meisten, wenn Sie an Aleppo denken, Herr Ekmanian? „Die Tage, in denen die Stadt nicht in den Nachrichten war“, sagt er.
Zwischen den Fronten
Während andere Minderheiten, wie die Suryoye, das sind die Aramäer, oder die Kurden in Nordsyrien für die Selbstverwaltung – und damit gegen Assad – kämpfen, hielten und halten sich die Armenier im syrischen Bürgerkrieg zurück. Zu oft schon standen sie zwischen den Fronten, sie haben sich mit dem syrischen Regime arrangiert. Assad war auch so etwas wie die Schutzmacht der Armenier. Er brauchte sie, um die Machtbalance zwischen der mehrheitlich sunnitischen Bevölkerung des Landes und den vielen Minderheiten – er selbst ist Alawit, nicht Sunnit – aufrechtzuerhalten. Das war lange Zeit der Trumpf der syrischen Armenier. Mit dem Zerfall Syriens ist er verspielt.
Aleppo zerfiel im Bürgerkrieg in verschiedene Viertel, ein Teil der Stadt wurde von Assad gehalten. Ein anderer Teil sei von islamistischen Milizen kontrolliert worden, erinnert sich Tsola Demirjian. Am Anfang sei es noch möglich gewesen, die von den Rebellengruppen kontrollierten Stadtteile zu betreten – auch wenn das für die christliche Minderheit zunehmend mit Repression verbunden war: „Wenn ich auf die andere Straßenseite wollte, musste ich ein Kopftuch tragen.“
Tsola Demirjian hat vor ihrer Flucht viele Jahre lang in einer Apotheke gearbeitet, die ihrer Familie gehörte. Im Herbst 2015 wurde die Apotheke von Islamisten geplündert und zerstört. Tsola Demirjian und der Großteil ihrer Familie beschlossen, aus Aleppo zu fliehen: „Wir wussten, wenn wir bleiben, verlieren wir auch unser Leben.“
Unter den aleppinischen Armeniern machte ein Spruch die Runde: „Barfuß sind wir hier angekommen, barfuß gehen wir von hier fort.“ Viele flohen nach Armenien. In der Hauptstadt Eriwan gibt es bereits Pläne für einen Stadtteil, der für die syrisch-armenischen Flüchtlinge bestimmt ist. Er soll den Namen „Neu-Aleppo“ tragen. Andere harren in der Türkei aus oder machen sich auf den Weg nach Europa.
Die Bomben aus der Luft
Die Situation erscheint hoffnungslos: Am 22. April sollte in Genf eine Zwischenbilanz zu den Friedensverhandlungen zwischen dem syrischen Regime und den Rebellen vorgestellt werden. Doch stattdessen fielen erneut Bomben auf Aleppo. Die Friedensgespräche stehen auf tönernen Füßen.
Zwischen den Geschützstellungen stehen die Ruinen der Menschheitsgeschichte, ihr Wert ist kaum in Worte zu fassen. Die Siedlungsgeschichte von Haleb, wie Aleppo von der arabischen Bevölkerung genannt wird, geht in die Zeit um 5000 vor Christus zurück. Bis heute sind Spuren der hellenischen Straßenführung erhalten, es finden sich Überbleibsel von hethitischen Tempeln, die wohl um 1200 vor Christus errichtet wurden. Dazu byzantinische Kirchen und prachtvolle Moscheen.
Mittlerweile jedoch haben die meisten Archäologen die Stadt verlassen. Im April 2015 berichtete die armenische Zeitschrift The Armenian Weekly von der Zerstörung der armenisch-orthodoxen 4-Märtyrer-Kirche, einer der ältesten Kirchen Aleppos. Es ist nur ein winziger Ausschnitt der Zerstörung, unklar ist, wie viele Kulturschätze für immer verloren sind.
Die Tauben von Aleppo sind entflogen. Für immer, könnte man meinen. Gäbe es da nicht Exil-Aleppiner, die immer wieder von vorne beginnen wollen. Einer ist Mamoun Fansa. Der nun 70-jährige Historiker entstammt einer liberalen sunnitischen Familie. Gern erzählt er von seinem Großvater, der im Ersten Weltkrieg drei armenische Waisenmädchen mit in die Familie aufnahm. Oder von seiner Mutter, die bis zur mittleren Reife auf eine christliche Nonnenschule ging.
Mit 20 Jahren ist Fansa nach Deutschland gekommen, weil er sich dem Kriegsdienst in Syrien entziehen wollte. „Uniformen waren mir noch nie geheuer“, sagt er. Bis 2011 war er Direktor des Landesmuseums Natur und Mensch in Oldenburg. Jetzt, im Ruhestand, hat sich Fansa ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Er plant den Wiederaufbau Aleppos, für die Zeit nach dem Krieg.
Neuanfang
Der Historiker, ein Mann mit rundem Gesicht und herzlichem Blick, sieht in der archäologischen Forschung vor allem einen Auftrag der Verständigung: Er will den Aleppinern vermitteln, in welchem Schatz sie eigentlich lebten, um sie zu überzeugen, dass der Krieg ein Ende finden müsse.
Ende April haben sich Mamoun Fansa und andere Experten und Expertinnen im Deutschen Architekturzentrum (DAZ) in Berlin getroffen, um mit den Planungen für den Wiederaufbau von Aleppo zu beginnen. Sie wollen einen Ideenwettbewerb starten, für die Restaurierung der Altstadt wollen sie auch technisch und handwerklich versierte Flüchtlinge aus Syrien mit einbinden.
Im Herbst dieses Jahres plant die Arbeitsgruppe Rebuilding Aleppo um Mamoud Fansa einen Workshop in Beirut. In der libanesischen Hauptstadt wollen er und seine Mitstreiter mit Denkmalpflegern, Architekten und Historikern, mit Vertretern internationaler Organisationen und Universitäten die Pläne zum Wiederaufbau konkretisieren.
Etwa 30 Arbeitsgruppen seien derzeit weltweit damit beschäftigt, den Wiederaufbau von Aleppo zu planen, erklärt Mamoun Fansa. Ist das verfrühter Aktionismus, übermäßiger Optimismus? Nein, für ihn ist das Bewusstsein der Syrer und Syrerinnen für den kulturellen und historischen Wert ihrer Städte eine Vorbedingung für das Ende ihrer Zerstörung.
Damit der Wiederaufbau konkrete Formen annehmen kann, benötigen die Experten jedoch politische Verbündete. Denn ohne eine politische Lösung des syrischen Bürgerkrieges kann nichts wiederaufgebaut werden. Doch weder mit den islamistischen Rebellen noch mit Assad können sich Forscher wie Mamoun Fansa eine Zusammenarbeit vorstellen.
Klar ist bislang nicht allzu viel, nur dass das neue Aleppo wieder bunt sein soll, dass es ein Ort sein muss, an dem sich die verschiedenen Kulturen, Religionen und Ethnien des Nahen Ostens die Hand reichen und erneut unter den wundervoll verzierten Dächern des Suk Tee trinken, reden und verweilen können. Dann, irgendwann, kehren vielleicht auch die Tauben zurück nach Aleppo.
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