Kriegsfolgen in Armenien: Das Luftabwehrsystem als Spielplatz

In Armenien war gerade wieder Krieg. Hier lebt auch der kleine David. Er hat nur ein Paar Schuhe und einen einzigen Wunsch.

Eine karge Landschaft, in der einzelne Punkte zu ekennen sind, die an Menschen erinnern

Dieses Bild vom 13. September soll aserbaidschanische Soldaten beim illegalen Grenzübertritt zeigen Foto: Armenian Defense Ministry/ap

In Armenien ist gerade wieder Krieg gewesen. Mein Heimatland ist „Grenzgebiet“. Das ganze Land. Keine Grenze auf der Welt ähnelt der unsrigen. Sie beginnt an jedem Haus. Zum Jahresbeginn war ich im Dorf Ishkhanasar. Es wurde innerhalb eines Tages Grenzgebiet, als auf dem nahen Berg plötzlich Aserbaidschans Flagge gehisst und im Dorfzentrum ein Luftabwehrsystem aufgestellt wurde.

Niemand wollte darüber sprechen. Es schien, als ob der Krieg, solange man nicht laut über ihn sprach, einfach wieder aufhören würde.

Im Dorfzentrum steht eine hohe, grüne Metallkonstruktion. Darunter stapeln sich achtlos hingeworfene Schultaschen. Acht kleine Jungen wälzen sich lachend im Schnee. „Das ist wie Superhero“, sagt einer der Jungen, „es fängt die Flugzeuge ab, die aus der Luft auf uns schießen, und knallt sie ab.“

„Nein, es fängt sie nicht ab, sondern schickt unsichtbare Strahlen in das Flugzeug und das schmilzt dann“, verbessert ihn ein anderer.

Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке.

Kinderspiel und Binnenflüchtlinge im Krieg

Ich frage die Kinder, wohin sie gehen. „Zu mir nach Hause“, sagt der kleine David. „Ich habe heute Geburtstag. Komm doch mit.“ „O. k.“ David und die anderen Jungs sind fröhlich, schubsen sich gegenseitig. Zwei von ihnen wohnen noch nicht lange in Ishkhanasar. Ihre Häuser und ihre Schulen gibt es nicht mehr. Die Jungen sind Binnenflüchtlinge.

Bei David angekommen, ziehen sie alle nacheinander ihre dreckigen, ausgetragenen Schuhe aus, die ihnen um einige Nummern zu groß sind. David zieht seine drinnen aus. Sie sind neu.

„Was hat sich seit dem Krieg verändert?“, frage ich. „Sobald es dunkel wird, dürfen wir nicht mehr raus“, antwortet David sofort. Die Großmutter mischt sich ein: „Lüg nicht, das ist doch gar nicht so. Es ist einfach kalt, wir wollen nicht, dass du dich erkältest. Was dem Menschen vorherbestimmt ist, das wird passieren. Ich fürchte mich nicht. Basta“, sagt die Großmutter.

Ich verstehe, dass unser Gespräch jetzt beendet ist, weil ich nicht weiß, wer uns den Krieg „vorherbestimmt“ hat. „Wollen wir jetzt auf David anstoßen?“, frage ich. Die kleinen Jungen prosten sich mit Saft zu.

Nur ein Wunsch

„Was wünschst du dir, David? Geburtstagswünsche gehen doch in Erfüllung“, sage ich. „Ich habe keine Wünsche“, antwortet David. „Das gibt’s nicht“, widerspreche ich. „Pass auf, ich sag’s dir ganz leise“, sagt er, legt seine Arme um meinen Hals und flüstert mir ins Ohr: „Ich will Frieden.“

In Armenien war gerade wieder Krieg. Armenien ist ein altes und schönes Land. Sehr alt und sehr schön. Armenien ist klein und weit weg. Der Krieg in Armenien wird Sie deshalb nur in Form von Statistiken und Todesopferzahlen erreichen. Armenien ist ein armes und teures Land. Das teuerste, denn es ist meine Heimat. Es ist auch die Heimat von David, der nur ein Paar Schuhe und einen einzigen Wunsch hat.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.

Der Sammelband „Krieg und Frieden“ ist im Verlag Edition fotoTAPETA erschienen und kostet 10 Euro.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Die Journalistin lebt und und arbeitet in Jerewan (Armenien). Sie war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.

Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

Diese Kolumne ist nur möglich dank Ihrer finanziellen Hilfe. Spenden Sie der taz Panter Stiftung und sorgen Sie damit für unabhängige Berichterstattung von Jour­na­lis­t:in­nen vor Ort.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.