Argentinische Landwirtschaft: Das Gift in der Lunge

Der Sojaanbau boomt im Direktsaatverfahren. Das nur mithilfe des Herbizids Glyphosat möglich ist. Ein Allesvernichter. Die Asthma-Erkrankungen häufen sich. Eine Geschichte aus San Jorge.

Viviana Peralta kämpft für ihre Tochter Ailén. Bild: vogt

SAN JORGE taz | Wo der Asphalt auf den Straßen in Lehm übergeht, beginnt das Barrio Urquiza. Die Häuser stehen vereinzelt, Wasche hängt auf den Leinen, Pferde und Esel grasen. "Un barrio humilde", ein bescheidenes Stadtviertel am Rand der Kleinstadt San Jorge in der argentinischen Provinz Santa Fe. Ganz am Ende wohnen die Peraltas. Auf den Wasseranschluss warten sie noch immer, der an die Kanalisation ist vorhanden.

Nesthäkchen Ailén feiert bald den dritten Geburtstag. Wenn der kleine Blondschopf tief Luft holt, diese anhält und mit vollen Backen wieder ausbläst, strahlt das Gesicht von Mutter Viviana Peralta. "Sie muss nur noch einmal pro Tag inhalieren", sagt Viviana Peralta, "weil drüben nicht mehr gesprüht wird."

"Drüben", das ist die andere Seite der Straße. Hier beginnen die Felder, auf denen jahrelang Soja gepflanzt wurde. Zwei Erntezyklen im Jahr. Pro Zyklus kamen die Sprühfahrzeuge mindestens dreimal. Nicht selten wurde aus der Luft gesprüht. Einmal war Viviana Peralta auf das Feld gegenüber gerannt, hatte Erdbrocken geworfen, das riesige Sprühfahrzeug aufzuhalten versucht. Verzweiflung, Wut, Todesangst um ihre kleine Tochter.

Soja: Argentinien ist der weltweit drittgrößte Sojabohnenproduzent und -exporteur. Angepflanzt wird fast ausschließlich genverändertes Saatgut. Über 90 Prozent der Ernte - 54 Millionen Tonnen - gehen in den Export nach China, Indien und in die EU. Beim gegenwärtigen Weltmarktpreis von rund 370 US-Dollar pro Tonne Sojabohnen stellt sie einen Wert von fast 20 Milliarden Dollar dar; davon fließen 7 Milliarden als Exportsteuer in den Staatshaushalt.

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Glyphosat: "Siembra directa", Direktaussaat, heißt die Zauberformel für den Aufstieg der kleinen Proteinkügelchen. Ohne die Ackerfläche umzupflügen, pflanzt man das Saatgut unmittelbar in den Boden. Das spart Wasser und vor allem Arbeitskräfte. Allerdings muss die Anbaufläche bis zu dreimal "gereinigt" werden. Dafür sorgt das Glyphosat. Während das Herbizid alles andere ratzekahl vernichtet, ist das genetisch veränderte Sojasaatgut resistent.

In der Wohnküche ist ein Kommen und Gehen. Sechs Kinder hat die Familie Peralta. Ailén ist die Jüngste. Als sie sechs Monate alt war, mussten die Eltern mit ihr Hals über Kopf in die Provinzhauptstadt fahren. "Sie wäre uns fast erstickt." Drei Tage hing Ailén im Kinderkrankenhaus an der Sauerstoffflasche.

"Zum Glück mussten die Ärzte den Luftröhrenschnitt dann doch nicht machen." Die Mutter betrachtet die Schere, legt sie beiseite. "Ailén hatte etwas, wofür die Ärzte keinen Namen hatten." Immer wieder habe sie sich gefragt: Was lässt sie nicht atmen? Was ist das? Und eines Tages machte es "klick": "Die sprühen wieder. Das ist es."

"Der Arzt hat damals gesagt: ,Einigen Sie sich mit dem Grundbesitzer, der soll Ihnen ein Haus im Zentrum kaufen.' " Jetzt klopft die Faust auf den Tisch. "Das hier ist unser Haus. Wir sind die Eigentümer unserer Häuser, unserer Gesundheit. Ich will nicht, dass der Grundbesitzer gegenüber vor unserem Haus sprüht."

Sinkende Geburtenrate

San Jorge ist eine Kleinstadt in der Provinz Santa Fe. 25.000 Menschen leben hier. Nach dem landestypischen Schachbrettmuster gebaut, streckt sich die Stadt von der Plaza San Martín im Zentrum in alle vier Himmelsrichtungen aus. Drum herum Sojafelder.

"Es ist offen", ruft Fabiana Goméz und sortiert weiter die neue Lieferung Strampelanzüge. Ihren kleinen Laden "Fürs Baby, bis es laufen kann" hat sie vor vier Jahren nach der Geburt ihres Sohnes eröffnet. Der Kleine ist gesund und munter, aber mit einem Geschwisterchen will es nicht klappen. "Als wir beim Arzt in Rosario waren, hat der meinen Mann zuerst gefragt, ob er in der Landwirtschaft arbeitet." Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Sperma wegen der Agrochemikalien an Zeugungskraft verliere, sei gegeben. Ihr Mann sei beileibe kein Einzelfall in der Region. Einschlägige Untersuchungen gibt es keine, aber Erfahrungen sammelt der Arzt in Rosario schon. Jetzt warten die Goméz auf das Resultat.

"Hier im Laden kommt man ja leicht ins Gespräch unter Frauen. Ich höre immer häufiger, dass es mit dem Kinderkriegen nicht klappt." Zudem ist die Zahl der Zwillingsgeburten gestiegen, was auf Nachhilfe schließen lässt. Gomez hat von ihrem Hausarzt die Einnahme von Vitamin C empfohlen bekommen. "Ich kann zwar die Ladentür offen lassen, so sicher ist San Jorge, aber die Agrochemie findet man in der ganzen Stadt."

Zwei Straßen weiter hat Susana Manzano ihre Praxis. Die Biochemikerin führt Blutuntersuchungen durch. "Statistisch gesehen sterben wir in San Jorge alle an Atemstillstand. Aber die Ursachen dafür findet man nicht in der Statistik", sagt sie. Obwohl die Krebserkrankungen zunehmen und immer mehr junge Männer an Unfruchtbarkeit leiden. "Das sind alles Beobachtungen, wissenschaftliche Beweise oder Untersuchungen gibt es keine." 2000 ist für Manzana das entscheidende Jahr. Davor gab es wenig Soja und kaum Glyphosat. Dann begann der Sojaboom. "Es muss einen Zusammenhang geben", schließt Manzano.

Nachdem es bei ihr "klick" gemacht hatte, begann Viviana Peralta ihren Kampf gegen die Agrochemikalien vor ihrer Haustür. "Mit meiner Nachbarin bin ich von Haustür zu Haustür gegangen und habe Unterschriften gesammelt." Sie bekamen nicht nur die Unterschriften von 23 Familien, sondern erfuhren auch viel über die Leiden in der Nachbarschaft, von Hunden und Katzen, denen das Fell ausgegangen war, von Hühnern und Enten, die über Nacht einfach gestorben waren. "Es gab keine Familie, die nicht irgendwie geschädigt war."

Auf dem Bürgermeisteramt von San Jorge fühlte sich niemand zuständig. Im Gegenteil. Im November 2008 kündigte die Stadtverwaltung neue Sprüheinsätze an - notfalls unter Polizeischutz. Die Peraltas erwirkten durch eine einstweilige Verfügung ein vorläufiges Verbot.

Im März 2009 untersagte dann ein Gericht erstmals den Grundbesitzern, in einem Radius von 800 Metern um das Barrio Urquiza Glyphosat und andere Agrochemikalien einzusetzen. Für das Ausbringen per Flugzeug wurde ein Radius von 1.500 Metern festgelegt. Der Widerspruch von Produzenten und staatlichen Behörden erfolgte prompt, die betroffenen Bewohner hätten für die behaupteten Gesundheitsschäden keinerlei wissenschaftlich fundierten Beweise vorgelegt.

Ende 2009 wies das Berufungsgericht der Provinz Santa Fe den Widerspruch nicht nur ab, sondern legte erstmals und eindeutig in der argentinischen Rechtsprechung fest, wer die Beweislast trägt. Es sei gerade die - auch wissenschaftliche - Unsicherheit über die Konsequenzen des Herbizideinsatzes, die den Gebrauch in unmittelbarer Nähe von Bewohnern nicht zulasse. Die staatlichen Behörden sollten innerhalb von sechs Monaten die Unbedenklichkeit von Glyphosat und anderen Agrochemikalien nachweisen.

"Wir sind erst mal ganz still geblieben. Denn auch dagegen hätten sie noch Widerspruch einlegen können", sagt Viviana Peralta. Ende März war die Frist abgelaufen. Niemand hatte Berufung eingelegt. "Jetzt rührten wir die Trommeln." Das Medienecho machte San Jorge und die Bewohner von Barrio Urquiza über Nacht republikweit bekannt.

In der Straße Irigoyen steht ein roter Klinkerbau. Victor Trucco, einer der Pioniere des Sojaanbaus in Argentinien, öffnet die Haustür. "Es ist noch gar nicht lange her, da standen hier vorne die Eisenbügel, an denen die Pferde festgebunden wurden." San Jorge war damals ein unbedeutendes Dorf. "Heute haben wir hier die besten Sojafelder des Landes." 1.000 Hektar Land hat Truco gepachtet.

Ein zehn Zentimeter dickes Buch liegt auf dem Wohnzimmertisch bereit. "Das sind die ganzen Unterlagen, die die Herstellerfirmen der Regierung vorgelegt haben", erklärt er. "Hier, Glyphosat, wofür man es verwenden darf bis zu den Information über die toxische Wirkung."

1989 gründete Truco die Aapresid (Asociación Argentina de Productores en Siembra Directa), deren Ehrenpräsident er heute ist. Sie ist eine der wichtigsten Lobbyisten für die Direktaussaat von Transgensoja und den Einsatz von Glyphosat. Mitglieder sind nicht nur Produzenten. Auf der Internetseite sind als Firmenmitglieder alle zu finden, die im Bereich Agrochemie Rang und Namen haben: Monsanto, BASF, Bayer, Compo, Syngenta.

Millionen Liter Pestizide

"Als wir in den 1980er Jahren mit der Direktaussaat von Soja anfingen, benutzten wir zwei Liter Glyphosat pro Hektar. Damals war der Ertrag aber auch nur die Hälfte von dem, was wir heute ernten." Heute wird mindestens dreimal pro Wachstumszyklus Glyphosat auf die Felder ausgebracht. Pro Hektar kommen mindestens 10 Liter zusammen. Mit 19 Millionen Hektar kletterte die Anbaufläche im Jahr 2009 auf ein neues Rekordhoch. Zu den 190 Millionen Liter Glyphosat kommen noch Millionen Liter an Pestiziden und Fungiziden.

Das gerichtlich angeordnete Sprühverbot nennt Victor Truco Unfug. "Ich bin damit einverstanden, dass an einem Haus kein Sprühfahrzeug vorbeifahren darf. Glyphosat ist kein Weihwasser, damit muss man vorsichtig und ordnungsgemäß umgehen." Was im Barrio Urquiza passierte, sei ein Unfall gewesen. Einen kausalen Zusammenhang von Glyphosateinsatz und dem Steigen der Krebsrate sieht er nicht.

"Absurd ist das schon", sagt Viviana Peralta. "Jetzt haben wir in San Jorge Bürger erster und zweiter Klasse." Die Schutzzone gilt nur für die 300 Bewohner im Barrio Urquiza. Im Viertel schwirren die Libellen durch die Luft, die Grillen zirpen, die Frösche sind zurük. "Seit nicht mehr gesprüht wird, ist das Leben zurückgekehrt", sagt Viviana Peralta. Töchterchen Ailén zeigt dabei, wie tief Luftholen geht.

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