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Argentinien in der CoronakriseMassenprotest für mehr Staatshilfe

Am Freitag demonstrierten Zehntausende in Buenos Aires. In der Pandemie hat die Armut zugenommen. Und derzeit breitet sich im Land die Anden-Variante aus.

Am Freitag waren ausschließlich die Re­gie­rungs­kri­ti­ke­r*in­nen auf der Straße Foto: ap

BUENOS AIRES taz | Argentinien erlebte am Freitag den größten Protest seit Beginn der Pandemie. Zehntausende waren zum Sozialministerium im Zentrum der Hauptstadt gezogen. Neben einer finanziellen Nothilfe forderten sie eine umfangreichere Bereitstellung von Nahrungsmitteln für die zahlreichen Volksküchen im Großraum Buenos Aires. Zu der Demonstration hatten mehr als 40 linke und soziale Basisorganisationen aufgerufen, nach Angaben der Veranstalter hatten sich rund 100.000 Menschen beteiligt. Zwar trugen die meisten Schutzmasken, doch die Abstandsregel wurde nicht eingehalten. Der Protest blieb weitgehend friedlich.

„Uns treibt die schiere Not hierher“, rief die Betreiberin einer Volksküche. Für viele seien diese Comedores längst die einzigen Orte, an denen sie eine warme Mahlzeit bekommen. „Die Regierung stellt nur noch Nudeln, Reis und Maisgrieß. Gemüse oder Milch fast gar nicht und von Fleisch können wir nur träumen“, erklärte sie. „Und wenn Kinder nach einem Becher Milch fragen, können wir nur warmen Matetee ausschenken,“ fügte sie hinzu.

15 Monate nach dem Beginn der Pandemie ist die Lage derart angespannt, dass die Furcht vor sozialen Unruhen wächst. Noch tags zuvor hatte die Regierung von Präsident Alberto Fernández versucht, den Marsch zu verhindern. Sozialminister Daniel Arroyo kündigte einen Bonus von 6000 Peso für die knapp eine Million Menschen an, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen stecken. Nicht wenig, beträgt der Monatslohn für diese Beschäftigten gerade mal 12.200 Peso, umgerechnet etwa 65 Euro.

Wie wenig es dennoch ist, zeigt eine simple Rechnung: Die Armutsgrenze wird in Argentinien durch den Wert eines Basiswarenkorbs für eine vierköpfige Familie gezogen. Nach der Angaben der Statistikbehörde Indec beträgt dieser aktuell 64.445 Peso, umgerechnet rund 340 Euro. Vor einem Jahr hatte der Wert des Basiswarenkorbs noch 32.480 Peso betragen, sprich die Hälfte. In zwölf Monaten hat die Inflation zahlreichen Familien die Kaufkraft ihres Einkommens regelrecht zerbröselt.

Lebte vor der Pandemie bereits je­de*r Dritte der rund 45 Millionen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen unterhalb der Armutsgrenze, so ist es inzwischen je­de*r Zweite. „In Argentinien sind heute mehr als die Hälfte der Kinder arm. Ihr Prozentsatz liegt im Großraum Buenos Aires und anderen Ballungsgebieten bereits bei fast 75 Prozent. Von vier Kindern, die dort an einem Tisch sitzen, kann nur eines jeden Tag essen“, heißt es in einem kürzlich erschienenen Bericht des renommierten Sozialobservatoriums der Katholischen Universität in Buenos Aires.

Allerdings sind die ärmeren Bevölkerungsschichten gut organisiert. Ihre zahlreichen Basisorganisationen lassen sich in regierungsfreundliche und -kritische Gruppierungen unterscheiden. Am Freitag waren zwar ausschließlich die Re­gie­rungs­kri­ti­ke­r*in­nen auf der Straße. Aber auch auf der regierungsfreundlichen Seite wächst der Druck in Richtung Protest. Das weiß auch das Kabinett von Fernández, das auf beide Lager ein wachsames Auge hat.

Akzeptanz für wirtschaftliche Restriktionen ist verschwunden

„Ich ziehe 10 Prozent mehr Arme 100.000 Corona-Toten vor“, hatte Präsident Alberto Fernández im April 2020 gesagt. Damals stieß die Aussage des Präsidenten auf breite Zustimmung in der Bevölkerung und die Regierung verhängte einen der längsten Lockdowns weltweit. Mit flankierenden Maßnahmen wurde versucht, die finanziellen Verluste vor allem der unteren Einkommensschichten aufzufangen, die Unternehmen erhielten Lohnzuschüsse. Dennoch sind rund 6 Millionen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen zusätzlich in die Armut abgerutscht, und in naher Zukunft wird die traurige Schwelle der 100.000 Corona-Toten überschritten werden.

Gut ein Jahr später ist die Akzeptanz für wirtschaftliche Restriktionen weitgehend verschwunden. Fernández' Formel „Gesundheit geht vor Wirtschaft“ folgt kaum noch jemand. Die Hälfte der Ökonomie ist informell, die Menschen müssen arbeiten. Trotz der nach wie vor alarmierenden Zahlen hat die Regierung die pandemiebedingten Restriktionen inzwischen weitgehend gelockert.

Gegenwärtig pendelt die Zahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen zwischen 20.000 und 25.000. Auch wenn die Kurve seit einigen Tagen nach unten zeigt, ist noch keine Entwarnung in Sicht. Allein am Freitag wurden 465 Sterbefälle registriert. Damit stieg die Gesamtzahl der Todesfälle in Zusammenhang mit der Viruserkrankung auf 88.247. Für die Neuinfektionen werden vor allem drei ansteckendere Varianten des Virus verantwortlich gemacht. Neben der britischen oder Alpha-Variante sowie der Manaus- oder Gamma-Variante, zirkuliert in der Region auch die sogenannte Anden-Variante.

Vergangenen Mittwoch wurde sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter der Bezeichnung Lambda-Variante als „Variante von Interesse“ eingestuft. Für die WHO gilt sie damit nicht nur als potentiell ansteckender, sondern auch als vom menschlichen Immunsystem schlechter bekämpfbar. Erstmals war die Variante Andina im August 2020 in Peru entdeckt worden. Nach Angaben der peruanischen Gesundheitsbehörde wird sie dort inzwischen für über 80 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich gemacht.

Wenige Monate nach ihrer Entdeckung tauchte sie in Argentinien auf. Bisher konnte das Impfprogramm der Regierung die neue Infektionswelle nicht brechen. Lediglich 13,9 Millionen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen wurde bisher eine Dosis verabreicht. Und nur 3,6 Millionen haben beide Dosen erhalten. Der Anteil der Geimpften an der Bevölkerung beträgt also nur rund 30 Prozent bzw. 8 Prozent. Bei vielen Ar­gen­ti­nie­r*in­nen ist offen, wann sie überhaupt die notwendige zweite Dosis erhalten, die erst den Schutz vor einer schweren Covid19-Erkrankung wesentlich erhöht.

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