: Diagnose: Heilung kaum mehr möglich
CHARITÉ Die Krankenschwestern und -pfleger gehen auf die Barrikaden: Sie wollen kommende Woche streiken. Es geht ihnen nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen
VON JÖRN BOEWE UND JOHANNES SCHULTEN
Eine ganz normale Nacht auf einer Schlaganfallstation der Berliner Charité. 38 Patienten liegen hier, verteilt über Zimmer auf drei Gängen – A, B, C. Betreut werden sie von den beiden Krankenschwestern Katrin Meyer* und Silke Groß*. Meyer läuft zum Gang C. Dort liegen Patienten, die in ihrer Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt sind. Einer von ihnen hat geklingelt, er muss auf die Toilette. Ihre Kollegin bleibt allein in der „Kanzel“, wie der Dienstraum des Pflegepersonals intern genannt wird. Sie muss nun sechs Monitore im Auge behalten: sechs Monitore für sechs Patienten, die permanent beobachtet werden müssten.
Nötig wäre das, aber machbar ist es nicht. „Ich kann das alleine gar nicht leisten“, sagt Silke Groß. Wenn ihre Kollegin einen Schwerstpflegefall im Bett umdreht und sie einen der monitorüberwachten Patienten versorgen muss, bleiben die restlichen fünf Akutfälle unbeobachtet. „Das ist ein Sicherheitsrisiko.“
Auf einer Station mit Patienten, die gerade erst einen Schlaganfall oder eine Hirnblutung hatten, sei das kaum zu verantworten. Für die Krankenschwester ist klar: „Wir müssten nachts zu dritt arbeiten.“
Eigentlich hätte das seit Januar auch so sein sollen. „Uns wurden zwei zusätzliche Vollzeitkräfte versprochen“, berichtet Silke Groß. Die wurden sogar eingestellt – aber noch bevor sie zum Einsatz kamen, hatten wiederum zwei andere Mitarbeiterinnen gekündigt. „So ist unsere Personalausstattung genauso schlecht wie vorher.“
Um das zu ändern, wollen Groß und ihre Kolleginnen und Kollegen am kommenden Montag in den Streik treten, zunächst für zwei Tage. Es ist ein ungewöhnlicher Ausstand. Denn es geht dabei nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen. Eine Pflegekraft soll auf einer Normalstation nicht mehr als fünf Patienten betreuen, auf Intensivstationen zwei, fordert die Gewerkschaft Verdi. Nachts soll niemand mehr allein auf einer Station eingesetzt werden. Derzeit betreut eine Pflegekraft an der Charité im Schnitt zwölf Patienten. „Wir streiken“, sagt Groß, „damit wir gute Arbeit machen können.“
Wie konnte es dazu kommen, dass „gute Arbeit“ an Europas größtem Universitätsklinikum – wo man, wie die Charité in ihrer Selbstdarstellung betont, „auf internationalem Spitzenniveau“ forscht, heilt und lehrt – seit Langem nicht mehr möglich ist? Diese Frage liegt auf der Hand. Doch die Klinik tut sich schwer, sie zu beantworten. Nicht einmal eine Stellungnahme zum seit Montag angekündigten Arbeitskampf hat sie bislang abgeben. Am heutigen Donnerstag will sich die Charité zwar dazu äußern – aber nicht auf einer öffentlichen Pressekonferenz, sondern in einem Hintergrundgespräch mit ausgesuchten Journalisten.
Spricht man mit Krankenschwestern und -pflegern, wird deutlich: Sie haben große Erwartungen an diesen Streik, aber sie haben diesen Entschluss trotzdem nicht leichtfertig gefasst. Sie sind keine Krawallos, sondern Profis mit einem hohen Anspruch an sich und ihre Arbeit. Schon seit Jahren weisen sie auf die Gefahren für die Patienten hin, die die schlechter werdende Personalsituation mit sich bringt. Viele Beschäftigte gaben Gefährdungsanzeigen ab, ganze Stationen verfassten kollektive „Notrufe“ an die Charitéleitung. Von „Zeitdruck, Hetze und Eile am Patienten“ ist darin die Rede, von einem „steigenden Risiko, Fehler zu machen“.
Besonders in der Kritik: Die in den vergangenen Jahren eingerichteten Pacu – ausgeschrieben Post Anesthesia Care Units. Auf diesen Stationen wachen Patienten nach Operationen aus der Narkose auf. Obwohl es sich um Intensivpatienten handele, mit denen die Klinik viel Geld verdiene, würden sie nach einem schlechten Personalschlüssel betreut. Von einer „Situation wie auf einem Verschiebebahnhof“ ist in den Protestnoten die Rede.
Der Leitung der Uniklinik und dem Berliner Senat sind die Probleme bekannt. Wegen der Unterbesetzung seien „Menschenleben gefährdet“, schrieb der Personalratschef der Klinik, Jörg Pawlowski, vor zwei Jahren in einem offenen Brief an den Vorstand. Und schon 2012 forderten die bei Verdi organisierten Pflegekräfte den Klinikvorstand zu Gesprächen über eine verbindliche Mindestbesetzung auf. Doch die Charité lehnte ab: Die Forderung sei ein unzulässiger Eingriff in die „unternehmerische Freiheit“, hieß es lapidar.
Ausgebremst wurden die Pflegekräfte zunächst aber auch von ihrer eigenen Gewerkschaft. Die Verdi-Spitze würde die Personalbemessung an Krankenhäusern lieber durch ein Bundesgesetz geregelt sehen. Dafür spricht eine Menge. Nur: Entsprechende Gespräche in Gremien und Kommissionen dauern seit bald einem Jahrzehnt an, und praktisch ist nichts passiert.
Zudem gab es rechtliche Bedenken in der Bundesverwaltung der Gewerkschaft. Es sei riskant, das Personalthema zur Tarifforderung zu machen, hieß es; Verdi-Juristen fürchteten, die Forderung könne gegen das Grundgesetz verstoßen. Erst ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, in Auftrag gegeben vom Linken-Abgeordneten Harald Weinberg, brachte 2013 Klarheit: Fragen der Personalbemessung dürfen in Tarifverträgen geregelt werden, weil sie unmittelbare Auswirkungen auf Arbeitsablauf, -verteilung und -belastung haben.
Daraufhin wurde verhandelt, wenn auch ohne großen Erfolg. Erst nach ernsten Streikdrohungen im Frühjahr 2014 kam eine Art Übergangsvereinbarung zustande: Probeweise sollten bis Ende vergangenen Jahres 80 zusätzliche Stellen geschaffen werden, um besonders gefährdete Bereiche kurzfristig zu entlasten. Eine paritätisch von Klinikleitung und Beschäftigten besetzte Gesundheitskommission sollte den Personaleinsatz steuern.
Doch das hat nicht funktioniert. „Laut Statistik wurden 78 Neueinstellungen vorgenommen“, berichtet die Krankenschwester und Verdi-Aktivistin Dana Lützkendorf, die für die Arbeitnehmerseite in der Kommission saß. „Aber wo die Leute wirklich abgeblieben sind, konnten wir nicht nachvollziehen.“ Die Personalfluktuation ist hoch, bis zu 200 Mitarbeiter gehen der Charité jährlich per Saldo verloren. Die Neueinstellungen, die als zusätzliche gedacht waren, seien so in den zahlreichen unbesetzten Stellen „versickert“.
Ohnehin wären die 80 Neueinstellungen nur ein Anfang gewesen. 300 müssten es sein, und die „on top“, also als zusätzliche Stellen, schätzt Lützkendorf. „Das Einzige, was uns wirklich helfen kann, ist eine Personalbemessung, die sich auf die Patientenzahl bezieht.“
Hier könnte der Senat handeln. Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) hatte sich in den vergangenen Wochen wiederholt dafür ausgesprochen, „rechtssichere Personalschlüssel“ in den Krankenhausplan für die Jahre 2016 bis 2020 aufzunehmen – allerdings ohne sich festzulegen, wie diese konkret aussehen sollen. Czajas Sinneswandel kommt nicht von ungefähr: Mitte März hatten 600 Pflegekräfte der Intensivstationen in einem Brief an den Senator Alarm geschlagen. Darin konstatierten sie: „Chronische Unterbesetzung, Krankheitsausfälle, Überstunden, Lückendienstpläne sind Alltag auf den Intensivstationen der Charité.“ Und forderten eine verbindliche Personalquote. Krankenhäuser, die den Schlüssel nicht einhalten, müssten mit Sanktionen belegt werden.
Fürs Erste wollen sie Sanktionen auf eigene Faust umsetzen. 10.000 Beschäftigte sind am Montag und Dienstag zum Streik aufgerufen. Zehn Stationen sollen stillgelegt werden, darunter die umstrittenen Pacu an allen drei Standorten Mitte, Steglitz und Wedding. „Wir wollen zeigen, dass wir in der Lage sind, den Betrieb massiv einzuschränken“, sagt der zuständige Gewerkschaftssekretär Kalle Kunkel. Besonders hoch sei die Streikbereitschaft unter hochqualifizierten Intensivpflegekräften. Nicht ohne Grund werden sie in Verdi-Kreisen an der Charité auch „unsere Lokführer“ genannt.
*Name geändert
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