: Langeweile in Lassan
Die kleinste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern geizt nicht mit versteckten Reizen: Ostseeromantik, Fischermystik, Katzenkopfsteinpflaster und auf langsam gedrehte Zeit. Allerdings ist ihre Touristik noch lange nicht entdeckt
von WALTRAUD SCHWAB
Lassan ist eine eigenwillige Stadt. In Gesprächen auf der Straße macht sie sich selbst zum Thema. Muss sie auch. Sonst wäre sie ganz vergessen, da oben an der Boddenküste. 15 Kilometer östlich: Anklam. 20 Kilometer westlich: Wolgast. Und vor sich Usedom wie einen Schutzwall, der alles auffängt von der Welt. Den Wind, die Touristen und das Geld.
Dabei ist Lassan „hübsch anzusehen“, wie eine Besucherin, die sich dorthin verirrte, sagte. Aber was heißt „hübsch“? Und was „anzusehen“? Beides eine Beleidigung. Denn Lassan ist keine Oberfläche, an der die Gäste vorbeiflanieren können. Lassen ist immer mittendrin.
Die kleinste Stadt in Mecklenburg-Vorpommern wirft zurück aus der Zeit. Hier ist „ist“: war. Die geduckten Häuser, die sich die Wendenstraße und die Lange Straße entlangziehen, beginnen an der Kirche, laufen parallel und enden am Hafen. Schon aus Plänen des 18. Jahrhunderts geht das hervor. Und früher soll es nicht anders gewesen sein. „In der Wendenstraße lebten die Slawen und in der Langen Straße lebten die Deutschen“, sagt Heino Repkowski, der Bürgermeister. „Sehen Sie, es klappt doch!“ Mit langen Sätzen gibt sich in diesem Flecken niemand ab.
Der Bürgermeister hat mit seinem Vergleich ein Problem von heute ad acta gelegt: die Aufkleber, die jeden Montag neu von den Straßenlaternen gekratzt werden müssen: „Opa war in Ordnung“, steht darauf. Seit wann verteidigen die Jungen die Alten? Seit wann fegt das Alte das Neue vom Tisch? Hinter dem abgebildeten Großvater ist ein Hakenkreuz zu erkennen.
Repkowski meint es gut. Er liebt seine kleine Stadt mit dem 730 Jahre alten Stadtrecht und den gerade mal 1.500 Bewohnern und Bewohnerinnen. Und Schlechtes über Lassan zu sagen, das trifft es nicht. Außer der Langeweile natürlich. Denn dieses schöne Nest bietet dem Fremden nicht viel mehr, als sich ins Nichtstun fallen zu lassen und sich zu wundern, dass das geht.
Entlang den Straßen stehen die kleinen Häuser. Eins ans andere gebaut. Rechts von der Tür zwei Fenster und links von der Tür zwei Fenster. Manchmal auch noch eins mehr. Manchmal gibt es einen zweiten Stock. Manchmal stehen Blumen vor der Haustür. Manchmal schaut ein Mann aus dem oberen Fenster eines kleinen Hauses an der Langen Straße und beobachtet die Leute. Normale Statur hat er. Ein bisschen erdig, stämmig vielleicht. Trotzdem, die Proportionen stimmen nicht. Wahrscheinlich steht er mit den Füßen auf dem Tisch im Stockwerk darunter. Aber wer will sich schon ein Urteil erlauben über die Geometrie der Gewohnheiten anderer?
Langsam steigt die Stadt an. Vom Hafen am Peenestrom, ja auch vom Achterwasser aus gesehen, hängt über allem der Kirchturm: viereckig, behäbig, schwer. Er ist mehr Heimat als die Bojen, die Mole, der gepflasterte Hafen, wo es nichts gibt. Keine Kaschemme, keinen Fischstand, keinen Fetzen Musik. Nur ein paar streunende Katzen. Dass Ankommen nicht Bleiben ist, das liegt daran, dass der Ort das Meer als Versprechen mit sich herumschleppt, es aber nicht hält. Usedom, die Insel, umschließt das Wasser des Hafenstädtchens, Hafennestes. Welches Meer aber will fest gehalten sein?
Wolf Biermann wusste darauf auch keine Antwort, als er Lassan besang: „Am Peenestrom, am Peenstrom, da liegt ein Wrack aus Holz und Stein, seit fünfmal hundert gleichen Jahrn, die alte Stadt Lassan. Die Stadt liegt da auf Grund und träumt, und kommt nie los und wird nie flott, und möcht gern auf die Ostsee fahrn, die alte Stadt Lassan.“
Als wüsste hier jeder um die Täuschung, ducken sich die Häuser die Straßen entlang, konnten nicht größer werden, nicht Hamburg werden oder Rostock, Lübeck, Stettin. Obwohl manche es versuchten und ihren Domizilen ein Fenster mehr gaben, den Sims und die Türumrandung verzierten, das zweite Gewerk andeuteten, das von reliefartigen Säulen oder rachsüchtigen Geistern gestützt wird. Dazu die verzierten Haustüren, von denen viele unter Denkmalschutz stehen. Lauter Meisterstücke der einst hier lebenden 200 Tischler.
Seit der Wende hat sich die Stadt herausgeputzt. Die Straße geebnet, die Fassaden der Häuser getüncht. In Lindgrün mit Gelb, in Altrosa mit Grau, in Hellblau mit Beige. Pastellfarben, nichts Aufdringliches. In der Sonne nicht und auch nicht, wenn schwarzgraue Wolken darüber ziehen. Das Licht, das vom Hafen aus gesehen über den beiden Straßen liegt, wirkt wie eine Aureole über den Dächern. Sie glänzen in der Sonne und sie glänzen im Regen. Eine Einheit, ein Kreis. Die Stadtmauer hinter der Kirche, verwittert, abgebröckelt, hat ihn einmal geschlossen.
Der Ort ist Projektionsfläche für die, die sich wünschen, dass das Alte nicht durch das Neue ersetzt werden möge. Wer das romantische Fischerdorf in Italien sucht, hat die falsche Himmelsrichtung eingeschlagen. Gegen Norden soll der Blick gerichtet werden. Hierher. Nach Lassan. Die Stadt ist eine Filmkulisse im Kopf. Unentdeckt bisher.
Die, die wissen, dass Warten nichts bringt, ziehen fort. „Die Jungen vor allem“, sagt der Bürgermeister. „200 sind in den letzten zehn Jahren gegangen.“ Nicht gern, denn Lassan muss einst das Modell fürs Schlaraffenland gewesen sein. Im Norden gab es den Fisch. Kein Seegang, keine riesigen Wellen brachten die Fischer in schreckliche Gefahren. Rundherum lagen die Felder, die Wälder, die Sümpfe. In einem soll eine alte Slawenburg untergegangen sein. Dazu die Straße nach Westen: eine Zwetschgen-und-Pflaumen-Allee. Entlang der Straße nach Süden wachsen die Mirabellen. In Gelb, Orange und Rot. Die Straße nach Osten aber ist von Apfel- und Birnbäumen gesäumt. Im Sommer und Herbst hängt Mostgeruch über ihnen; die Früchte wachsen den Vorbeiziehenden in den Mund. Ernten, Marmelade einkochen, das kann der Tourist in Lassan. Oder mit dem Kanu stromaufwärts fahren und Wege entlangspazieren, die im Nirgendwo enden. Hin und wieder setzt ein Kahn übers Achterwasser nach Usedom und fährt mit etwas Glück wieder zurück.
Tourismus ist die große Hoffnung. Deshalb hat die Stadt einem Investor den halben Hafenplatz verkauft. In ein paar Jahren soll dort ein viereckiger Kasten stehen, ein Hotel. Dahinter werden sich die Häuser wegducken. Wie nasse Katzen. „Warum baut man keine Gebäude mehr, auf die man noch in 100 Jahren stolz ist?“, fragt der Kapitän der „Felix“, die übers Achterwasser fährt. Als Antwort gibt es ein Schulterzucken. Sachzwänge. Arbeitslosigkeit. Werteverfall. Perspektivlosigkeit. „Wir bemühen uns, so gut wir können“, sagt der Bürgermeister und verschenkt ein Plakat der Stadt. Aus der Luft fotografiert ist sie. So sieht sie harmonisch aus. Und entrückt.
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