: „Ich brauche die Freiheit der Stadt“
ROM Wie Filomena Guaglione kommen viele Frauen aus dem Süden in die italienische Hauptstadt. Sie suchen eine Ausbildung, einen Job und vor allem ein Leben ohne provinzielle Moral. Lieber Single in Rom als Tante in Kalabrien
■ Die Welt im Nagelstudio oder Schönheitssalon ist Thema der Serie unserer Reiseseiten, die nun immer am Monatsende erscheint. Denn wo sonst auf der Welt wird bei mühseliger Feinarbeit am Objekt so offen und ohne Tabus geplaudert, getratscht und erzählt: über die Zukunft, die Gesellschaft, die Leute, das Land; über Liebe, Sex und Komplexe. Unsere Autorinnen vor Ort haben dabei nicht nur gepflegtes Nageldesign im French Style erhalten, sondern vor allem Einblicke in Frauenalltag und Schönheitsnormen. Die Arbeit mit Acryl und Gel, mit Wachs und Creme ist weltweit ein Beruf mit Zukunft, der Salon ein Ort der schrankenlosen Begegnung.
■ Bereits porträtiert wurden Studios in Doha/Katar, Mosyr/Weißrussland, Soweto/Südafrika und Bagdad/Irak, Sofia/Bulgarien.
VON MICHAELA NAMUTH
Ciao, amore“, verabschiedet Filomena Guaglione eine junge Kundin, die mit zufriedenem Gesicht und glitzernden Fingernägeln das Kosmetikstudio „Nouvel Age“ verlässt. „Bella, was siehst du heute gut aus“, begrüßt sie die Nächste, die zur Tür hereinkommt. Filomenas Stärke ist, dass man ihr glaubt, was sie sagt. Sie ist keine, die Süßholz raspelt. Man sieht der zierlichen Frau an, dass sie zäh sein kann und dass sie sich im Leben durchgesetzt hat. „Das Geschäft habe ich alleine aufgebaut“, sagt sie. „Wir konnten ihr nicht helfen. Es waren ja sechs Kinder“, bestätigt ihre Mutter, die auf Besuch ist. Mama Angiolina sitzt ganz in Schwarz gekleidet neben einer rosa Gipssäule und beobachtet aufmerksam, wie ihre Tochter eine Creme für die Massage anrührt und Handtücher wärmt.
Filomena Guaglione
Filomena ist vor 30 Jahren aus der Südregion Kalabrien nach Rom gekommen. Damals war sie 21 Jahre alt. „Die Verabredung mit meiner ersten Kundin hatte ich hier im Viertel, dann bin ich immer wieder hergekommen und am Ende geblieben“, erzählt sie. Sie glaubt an das Schicksal. Und zu ihrem Schicksal gehört das Viertel San Giovanni im Süden Roms, benannt nach der Lateran-Basilika, deren Wahrzeichen die großen Heiligenstatuen auf den Außenmauern sind, die über die Piazza und das Viertel wachen. Es ist noch eine der wenigen Wohngegenden im Zentrum. Es gibt Alte und Kinder und zwei große Parks. Während des Faschismus wurden hier Mietshäuser für mittlere Verwaltungsangestellte des Regimes gebaut. Seit dem Zweiten Weltkrieg residiert die faschistische Partei an der Piazza Tuscolo, die nur wenige hundert Meter von Filomenas „centro estetico“ entfernt ist. In den 70er- und 80er-Jahren gab es hier heftige Schlägereien, wenn die Schwarzen aufmarschierten. Doch seit die neofaschistische Partei von Silvio Berlusconis großem „Haus der Freiheit“ einverleibt wurden, ist es still geworden auf der Piazza. Jetzt stehen dort die Tische einer Bar.
Aber Filomena saß hier noch nie. Den Kaffee für sich und ihre Kundinnen macht sie selbst. „Ich komm hier den ganzen Tag nicht raus. Das Geschäft ist mein Leben“, gesteht sie. Und es ist praktisch auch ihre Wohnung. Sie hat das große Apartment im ersten Stock eines Wohnhauses 1996 angemietet und zweigeteilt. Der kleinere Teil ist ihre Wohnung, der große ihr Geschäft. Für alles zusammen zahlt sie 1.600 Euro Miete. Das ist billiger, als einen Laden zu mieten, und hat noch einen weiteren Vorteil. Die Atmosphäre bei Filomena und Bianca, die halbtags hier arbeitet, ist intimer und behaglicher als in den Salons, die eine Ladentür auf die Straße haben. Viele Frauen kommen hierher, um zu entspannen und sich mal verwöhnen zu lassen. Die jüngeren, wie die 22-jährige Aurora, wollen meist eine Enthaarung oder Anti-Cellulite-Behandlung. Aurora studiert noch, sie möchte Diätologin werden. Die Gutscheine für den Schönheitssalon spendiert der Papa. Eine Beinenthaarung bei „Nouvel Age“ kostet 33 Euro, eine einfache Maniküre 13 Euro und eine Ganzkörpermassage 50 Euro.
Staatsgründung: 1861
Hauptstadt: Rom
Fläche: 301.323 km[2]
Lage: Europa, Halbinse im Mittelmeer
Einwohnerzahl: knapp 60 Millionen
Religion: vorwiegend katholisch
Staatsform: Demokratie („unvollständige Demokratie“ nach dem Politologen Gianfranco Pasquino)
Staatsoberhaupt: Giorgio Napoletano
Ministerpräsident: Silvio Berlusconi
Politische Parteien: mindestens zehn; derzeit regiert das rechtsliberale Parteienbündnis „Partei der Freiheit“, das linksorientierte Bündnis der Demokratischen Partei stellt die Opposition
BIP pro Kopf: 35,39 US-Dollar (11. Platz in der EU)
Export: Lebensmittel, Bekleidung, Möbel, Autos
Filomena hat im Viertel viele Stammkundinnen. „Ich habe hier ein Netz aufgebaut. Das ist der Vorteil, das ich schon so lange da bin“, sagt sie. In die provinzielle Welt des italienischen Südens möchte sie nicht mehr zurück. In Rom führt sie wie viele das Leben einer selbständigen Single-Frau. Dort wäre sie als Alleinstehende zum Tanten-Dasein verurteilt, in dem nur die Männer der Familie vorkommen. „Ich brauche die Freiheit der Stadt. Die Mentalität eines kalabresischen Dorfes könnte ich nicht mehr ertragen“, gesteht sie. Ihre Mutter nickt. Angiolina versteht ihre Tochter. Sie trägt seit dem Tod ihres Mannes vor 18 Jahren Schwarz. Das ist Tradition, und sie hält sich daran. Aber sie ist stolz auf Filomena, die sich unabhängig von den alten Moralvorstellungen eine Existenz geschaffen hat. „Dazu musste sie fortgehen“, sagt Angiolina.
Name: Filomena Guaglione
Alter: 51 Jahre
Wohnort: Rom
Heimatort: Santa Maria del Cedro, Kalabrien
Familienstand: ledig
Beruf: Kosmetikerin
Studio: Nouvel Age, Privatunternehmen
Verdienst: etwa 1.000 Euro netto
Ausbildung: Mittelschule, Fernkurs Kosmetikerin, Diplom der römischen Schule für Kosmetik und Körperpflege (S.E.R.), Weiterbildungskurse, vor allem Massage
Hobby: ihr Beruf
Kleidungsstil: sportlich-elegant
Nägel: dunkelrot lackiert
Zukunftswunsch: das Apartment kaufen können, in dem sie wohnt und arbeitet
Der Süden Italiens ist das absolute Schlusslicht Europas, was die Beschäftigungslage der Frauen betrifft. Dies liegt nicht nur an dem Mangel an Arbeitsplätzen, sondern an einem Kulturmodell, das sich nur schwerfällig ändert. So gab es zwischen Palermo und Neapel noch bis vor zehn Jahren kaum weibliche Kellner. Kein Vater wollte, dass seine Tochter in der Öffentlichkeit tat, was sie nur in der Familie durfte: Männer bedienen. Bis heute liegt die Erwerbsquote in den Südregionen mit 34,7 Prozent weit unter dem europäischen Durchschnitt von 57,4 Prozent. Das heißt, die Chance einer süditalienischen Frau auf einen Arbeitsplatz ist geringer als die ihrer Geschlechtsgenossinnen in Griechenland, Polen, Rumänien und Bulgarien. Viele Mädchen arbeiten allerdings rund um die Uhr in kleinen Familienunternehmen, vor allem im Tourismus und der Landwirtschaft, ohne wirklich eine Entlohnung und damit Unabhängigkeit zu erhalten. Im industrialisierten Norden stehen die Frauen deutlich besser da. Rund 70 Prozent sind erwerbstätig. Insgesamt ist das Bildungsniveau der italienischen Frauen höher als das der Männer. 53 Prozent verfügen mindestens über Abitur oder Studium, bei den Männern sind es nur 45 Prozent. Trotz besserer Ausbildung haben die Frauen aber weniger Chancen, einen Job zu finden. Ohne Ausbildung haben sie gar keine Chance.
■ Der italienische Fotograf Pasquale Modica, Jahrgang 1960, hat viele Jahre für die Agentur AGF und damit für die größten italienischen Zeitungen und Wochenmagazine, unter anderem L’espresso, und für das Schweizer Nachrichtenmagazin „Facts“ gearbeitet. 1989 dokumentierte er den Fall der Berliner Mauer. Er war bei dem Sturz des rumänischen Regimes dabei und wurde angeschossen. Seit den 90-Jahren widmet er sich wieder seiner alten Leidenschaft: der Musik. Modica hat einen Fotoband über die Rocksängerin Carmen Consoli veröffentlicht und stellt derzeit einen weiteren über die italienische Band Subsonica zusammen.
Das hatte Filomena schon als junges Mädchen begriffen. Deshalb hat sie ihren ersten Berufskurs als Kosmetikerin per Briefkorrespondenz abgeschlossen. „Ich durfte ja ohne meinen Bruder oder einen Cousin noch nicht mal Bus fahren“, erinnert sie sich. Auch ihr Wunsch, einen Schönheitssalon zu eröffnen, stieß auf Unverständnis. Heute florieren die Schönheitssalons im Süden. Vor dreißig Jahren sah die Lage ganz anders aus. Mama Angiolina erzählt, dass sich für so was damals nur „Adelige und Reiche“ interessierten und Kundschaft ansonsten knapp war. So ergriff Filomena die erste Gelegenheit, um wegzukommen. Diese bot sich Anfang der 80er-Jahre, als ihr ein kleiner Job in einem Feriendorf angeboten wurde. Von da aus ging sie direkt nach Rom. Dort absolvierte sie die S.E.R., eine Schule für Kosmetik und Körperpflege. 1993 eröffnete sie ihren ersten eigenen Salon, 1996 dann das Studio „Nouvel Age“ in der Via Fregene.
In den 90er-Jahren brummte das Geschäft. „Ich hatte hier anfangs drei Mitarbeiterinnen“, erzählt Filomena. Jetzt sind sie und Bianca übrig geblieben. Das macht ihnen nicht viel aus. Sie verstehen sich gut und verdienen auch zu zweit genug. Die Stammkundinnen der ersten Stunde bleiben ihnen immer treu. Aber die Stimmung hat sich geändert. „Es ist nicht so, dass unsere Kundinnen wegen der Krise jetzt viel weniger Geld haben. Sie haben vor allem weniger Zeit“, findet sie. Zu Filomena und Bianca kommen Ladenbesitzerinnen, Ärztinnen und Journalistinnen. Viele sagen ihre Verabredung mehrmals ab, weil ihnen etwas dazwischengekommen ist. Die Gespräche drehen sich nicht mehr um Politik, von der sich die meisten ohnehin betrogen fühlen, sondern um die Angst vor der Zukunft. „Viele glauben wirklich daran, dass im Jahr 2012 die Welt untergeht“, sagt Filomena ernst. Sie ist nicht so pessimistisch. Vielleicht weil sie ihren Glauben hat, meint sie. Und ihren Salon natürlich, wo die Welt zu ihr kommt. Fast alle ihre Kundinnen arbeiten und genießen es, sich in der Mittagspause massieren zu lassen oder im Wasserdampf vor sich hin zu dösen. In solchen Momenten entsteht wahre Intimität, manchmal sogar Freundschaft. „Ich kenne kleine und große Geheimnisse aus dem Leben meiner Kundinnen“, sagt Filomena. Aber darüber wird sie immer schweigen. Das wissen Annamaria, Lucia und die anderen wenn sie ihnen „Ciao, amore“ nachruft.
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