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Der Spitzenkandidat nickt ein

Unterwegs mit den Wahlkämpfern: Der Grüne Stefan Wenzel rackert sich für Klimaschutz und Bildung ab. Und müsste eigentlich einmal schlafen. Aber mangels Machtoption muss die Partei am Sonntag mit Mobilisierungsproblemen rechnen

RAN AN DEN LAST-MINUTE-WÄHLER

Gepokert hat Jürgen Trittin in Hannover schon für den Klimaschutz. Am gestrigen Donnerstag kleidete der Ex-Bundesumweltminister aus Göttingen zusammen mit weiteren Spitzen-Grünen das Ernst-August-Denkmal vor dem Bahnhof der Landeshauptstadt mit Gummistiefeln ein – damit ihm bei ansteigendem Meeresspiegel nicht die Füße nass werden. Bis zum Wahlsonntag wollen die niedersächsischen Grünen mit zahlreichen Aktionen noch Last-Minute-Wähler für sich gewinnen: mit Kneipen-Touren, 24-Stunden-Wahlkampf oder auch der Teilnahme an der Demonstration gegen Studiengebühren („und heute?“, Seite 22). Bis Samstagabend 24 Uhr ist sogar noch eine Telefon-Hotline zum Grünen-Wahlprogramm geschaltet. Internet: www.gruene-niedersachsen.deKSC

VON KAI SCHÖNEBERG

Die Lider des Spitzenkandidaten senken sich. Während die Leute vom Bündnis gegen die Elbvertiefung im Fährhaus Kirschenland in Jork über Fließgeschwindigkeiten, Sauerstoffgehalt und Prallhänge referieren, nickt Stefan Wenzel ein. Der Grüne hat in dieser Nacht wieder nur fünfeinhalb Stunden geschlafen. „Das ist wie drei Wochen Pilgern auf dem St. Jacobsweg – da kommt man nicht mal eben so nach Hause“, hat Wenzel daheim in Göttingen gesagt. Gut drei Wochen, so lange dauert auch der Wahlkampf jetzt in Niedersachsen – das hinterlässt Spuren.

Der Wahlkampftross von Regierungschef Christian Wulff besteht aus gepanzerten Limousinen und einem dreiachsigen Reisebus. Wenzel hat sich auch an diesem Dienstagmorgen in einen VW Polo Blue Motion gezwängt, Aufschrift: „Ökologisch und solidarisch“. Das Gefährt glänzt mit 102 Gramm Kohlendioxidausstoß, aber Wenzel ist 1,89 Meter groß. Ko-Spitzenkandidatin Ursula Helmhold wahlkämpft mit einem gasbetriebenen VW Touran, immerhin eine Familienkutsche.

Auf der Autobahn schreibt der 45-Jährige ein Editorial für die Grünen-Postille „Flüstertüte“, redigiert die Pressemitteilung für den Besuch im Atommülllager Asse, teilt Parteichef Reinhard Bütikofer, der ihn bei dieser Tour durch den Norden Niedersachsens im BMW begleitet, für die erste ARD-Schalte am Wahlabend ein. Wenzel schiebt eine CD von den „Talking Heads“ ein, telefoniert, koordiniert, wie ein Berserker. „Der will echt die Welt verbessern“, sagen Grüne, denen der rastlose Fraktionschef mittlerweile etwas unheimlich geworden ist.

Die Unruhe hat Gründe. Drei von vier Wählern kennen ihn nicht, seine Vorgängerin Rebecca Harms hatte noch einen Bekanntheitsgrad von 40 Prozent. Zudem müssen auch die niedersächsischen Grünen am Wahlsonntag mit Mobilisierungsproblemen rechnen.

Realos? Fundis? Die alten Parteiflügel, sagt Bütikofer schmunzelnd, „habe ich gut wegvermittelt“. In der Weinstube des Hollenstedter Hofs in Hollenstedt drängeln sich die potenziellen Grünen-Wähler trotz des Berliner Stargasts nicht gerade: 20 Anwesende, davon sitzen sechs auf dem Podium, sechs sind Referenten oder Journalisten, der Rest Partei-Funktionäre aus dem Landkreis Harburg. Vielleicht liegt es auch am Thema: Metropolregion Hamburg. „Der Reinhard“ erzählt von Kooperationen aus seiner Heimat im Süden, streichelt den Deckel seiner Kaffeekanne und starrt aus dem Fenster. Auch Bütikofer könnte jetzt ein Nickerchen gebrauchen.

Wählerunlust trifft die Grünen meist nicht so stark wie CDU oder SPD. Dennoch fehlt der Partei laut Umfragen jede Machtoption. Als es die noch gab, als die Parteigänger vor fünf Jahren von einer Neuauflage von Rot-Grün in Niedersachsen träumen durften, fuhr die Partei ihr bislang bestes Landes-Ergebnis ein: 7,6 Prozent. Nun rechnen die Demoskopen mit sieben Prozent. Sieben, 33 für die SPD und fünf für die Linke reichen nur für fünf weitere harte Jahre Opposition. Mit den „Altkommunisten“ geht für Wenzel nichts, aber auch von der SPD ist er enttäuscht.

Damit die Grünen in zwei Tagen nicht zusammen mit den Sozialdemokraten „am Abgrund stehen“, versuchen sie es am Ende des Stimmen-Wettrennens auch mit Abgrenzung. „Schwarz -- Gelb - Rot ist der Klimatod“, heißt das letzte Grünen-Plakat. „CDU und SPD“, sagt Wenzel, „nehmen sich beim Bau von Autobahnen und Kohlekraftwerken überhaupt nichts.“

13 Kohle-Dreckschleudern sind derzeit in Niedersachsen geplant, das ärgert den Öko-Überzeugungstäter. Beim „kleinen“ TV-Duell am Mittwochabend im NDR schmeißt er FDP-Chef Philipp Rösler den Artikel, der die Zahl beweisen soll, aufs Rednerpult. Er überführt Rösler damit der Ahnungslosigkeit, aber es wirkt ungelenk.

Zweitstimme ist Klimastimme, wirbt der Agrarökonom auch abends im Stader Hof. Immerhin 70 Zuschauer wollen sehen, wie Wenzel für die gemeinsame Schule wirbt, den Ministerpräsidenten als „Technokraten der Macht“ attackiert, fordert, VW müsse das umweltfreundlichste Auto der Welt bauen – oder untergehen.

Das spannendere Wettrennen gibt es in Hessen, das weiß auch Wenzel. Als Joschka Fischer am Montag in Wiesbaden in die Bütt geht, schauen sich die Parteifreunde in Niedersachsen den grünen Paten in Hannover auf einer Großleinwand an. Das Bild allerdings ist grottenschlecht und wackelt, jemand witzelt: „Projekt 18 Pixel“.

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