ROMAN HERZOGS KRITIK AM WAHLRECHT ZEUGT VON ANGST VORM WÄHLER: Neue Ideen kommen vom Rand
Früher gab Roman Herzog die politische Devise „Hau ruck!“ aus, alsbald gefolgt von „Ruck, zuck!“. Von diesem Aufruf zur Tatkraft ist wenig geblieben. Denn was der ehemalige Bundespräsident in der Süddeutschen Zeitung zum Fünf-, bald vielleicht sogar Sechsparteiensystem zu sagen hatte, war von des Gedankens Blässe angekränkelt.
Zunächst entwarf Herzog ein düsteres Bild von der Regierungsfähigkeit des Kanzlers einer Minderheitsregierung. Der – eine weibliche Aspirantin kommt nicht vor – könne im Ausland nur als lahme Ente auftreten; im Inland müsse er sich seine Mehrheiten zusammenbetteln, die unsinnigsten Kompromisse eingehen und in die sachwidrigsten Kompensationsgeschäfte einwilligen.
Verträge? Absprachen? Vertrauensbildende Maßnahmen zwischen der Minderheitsregierung und den Parteien, die sie stützen oder dulden? Davon will Herzog nichts wissen. Stattdessen unterstellt er den Deutschen eine geradezu manische Sucht nach stabilen, das heißt absoluten Parlamentsmehrheiten. Eigentlich unterstellt er dem Publikum damit seine eigenen Ängste.
Im zweiten Teil seines Besinnungsaufsatzes analysiert Herzog die Chancen einer Wahlrechtsreform. Auch hier kommt er zu düsteren Ergebnissen, denn weder das rigorose englische noch das abgemilderte französische Wahlrecht hätten bei der deutschen Bevölkerung eine Chance: Die Wähler würden eine solche Reform als Trickserei der Großen ansehen.
Hätten sie damit recht? Darüber schweigt der Verfassungsjurist. Sonst hätte er sich der Frage widmen müssen, kraft welcher Initiativen neue Ideen und Projekte in den politisch-parlamentarischen Raum eindringen. Ist die ökologische Orientierung etwa dem Kopf damals etablierter Politiker entsprungen? Und wie verhält es sich mit den Gerechtigkeitsdiskursen? Hat die „fünfte“ Partei nicht ein klitzeklein wenig zu ihrer Verbreitung beigetragen?
Politische Innovation kommt von der Peripherie – von Minderheiten, die anfänglich ausgegrenzt werden. Statt über das Mehrheitswahlrecht sollte man daher lieber über eine Abschaffung der Fünfprozenthürde nachdenken. CHRISTIAN SEMLER
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