: Wege aus der Hungerkrise
Weltagrarrat fordert Revolution in der Landwirtschaft
Nur eine radikale Wende der Agrarpolitik und -forschung, ein Paradigmenwechsel, in dessen Mittelpunkt Kleinbauern und angepasste Technologien, gerechte Land- und Ressourcenverteilung stehen, kann die Ernährung von 9 Milliarden Menschen sichern, ohne dabei die ökologischen Grundlagen der Landwirtschaft zu zerstören.
Der Alarmruf des Weltagrarrates der Vereinten Nationen (IAASTD) kommt zum richtigen Moment. Entstanden ist er in einem fünfjährigen Prozess, der erstmals alle Akteure einzubeziehen versuchte. 400 Wissenschaftler und Experten suchten im Auftrag der Weltbank und der UNO Antworten auf die sperrige Frage: „Wie können wir Hunger und Armut verringern, ländliche Existenzen verbessern, gerechte, ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltige Entwicklung befördern durch Gewinnung, Zugang zu und Nutzung von landwirtschaftlichem Wissen, Wissenschaft und Technologien?“
Formuliert wurde sie von 30 Regierungsvertretern und 30 Vertretern von NGOs, Bauern, Verbrauchern und Industrie. Worauf sich die Regierungen der USA, Irans und Chinas, Syngenta und Greenpeace einigen können, so die Hypothese, das werde auch im wirklichen Leben Bestand haben.
Die folgenschwerste Vereinbarung stand am Anfang: Es geht nicht um die Bewertung bestimmter Technologien, sondern um die beste Lösung der Probleme, die Betroffene in einer Serie von Konsultationen formulierten. Welten liegen zwischen der Frage: „Was kann die Gentechnik zur Bekämpfung des Hungers beitragen“ und „Was sind die Ursachen des Hungers und welches die besten Optionen zu seiner Bekämpfung?“
Folgerichtig spielt die Gentechnik in dem Bericht kaum eine Rolle und wird der unverantwortliche Energie- und Pestizideinsatz als eines der größten Probleme nachhaltiger Entwicklung identifiziert. Statt Hightech-Forschung und globaler Märkte schneiden praktische Maßnahmen wie die systematische Verbesserung der Bildungs- und Kreditmöglichkeiten für Frauen, Verbreitung angepasster und bewährter Techniken, Nutzung und Fortentwicklung von Stammes- und Gemeindewissen erheblich besser ab.
Hunger und Armut, so ihr Fazit, können nachhaltig nur lokal bekämpft werden. Die bei Kleinbauern erzielbare Ertragssteigerung übersteige die Möglichkeiten industrieller Landwirtschaft um ein Vielfaches. Nur sie garantiere Verbesserungen der Ernährungssicherheit vor Ort. Reine Produktivitätssteigerung habe Menschen häufig eher von ihrem Land vertrieben, um von kapitalkräftigeren Investoren abgeschöpft und exportiert zu werden. Erstmals propagiert und definiert deshalb ein UN-Bericht neben der Ernährungssicherheit den Begriff der Ernährungssouveränität als „das Recht von Menschen und souveränen Staaten, demokratisch ihre eigene Landwirtschafts- und Ernährungspolitik zu bestimmen“.
Ähnlich „revolutionär“ ist die Anerkennung der Multifunktionalität: Landwirtschaft ist kein System, bei dem es einzig darauf ankommt, welche Produktmenge „hinten rauskommt“. Sie produziert auch die Erhaltung und Pflege natürlicher Ressourcen, sozialer und kultureller Identität, wirtschaftliche Existenzen und Gesundheit. Was zählt, ist das Gesamtprodukt.
Schließlich kommt der Bericht über die Ressource Wissen zu ähnlichen Schlüssen über die Ressource Nahrung: Es steht genug zur Verfügung, das Problem ist die Verteilung. Investitionen müssen sich auf die Verbreitung verfügbaren Wissens konzentrieren, anstatt Milliarden in Grenzbereiche ohne Effekt für die Ernährung zu stecken. Forschung sollte vor allem für und mit jenen hunderten Millionen von Kleinbäuerinnen und ihren Männern betrieben werden, die mit viel Arbeit, wenig Land und ohne Kapital ums nackte Überleben kämpfen. Dass dies nicht allein eine Frage der sozialen Gerechtigkeit ist, sondern der mit Abstand effizienteste Einsatz der verfügbaren Mittel zur Lösung der Ernährungs- und Umweltprobleme, ist die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Experten.
Schade, aber nicht ganz verwunderlich, dass auf die allerletzten Meter die Agrar- und Gentechnikindustrie aus dem Projekt ausgestiegen ist und die USA, Kanada und Australien dem Bericht die Zustimmung verweigerten. Der Findung der Wahrheit tut dies keinen Abbruch, wohl aber ihrer mühsamen Anerkennung. Der Bericht macht zwar noch niemanden satt, weist aber gangbare Wege aus der Krise.
BENNY HAERLIN
Der Autor ist Mitglied des IAASTD-Aufsichtsrates Weitere Informationen unter www.agassessment.org Aufbereitung der Ergebnisse unter www.greenfacts.org
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen