: Wesen und Erscheinung
Die Kritiker der Friedensbewegung üben sich in der Verdachtspsychologie und sehen einen Zusammenhang zwischen dem Widerstand gegen den Irakkrieg und dem Trauma der Bombennächte. Sie übersehen dabei: Es wird längst politisch diskutiert
von CHRISTIAN SEMLER
Wenn Wesen und Erscheinung stets identisch wären, wäre jede Wissenschaft überflüssig. Der Satz stammt von Karl Marx, stimmt aber trotzdem.
Folgt aus der drückenden militärischen Übermacht der USA, dass sie es ist, die die Staatenwelt gemäß ihrem nationalen Interesse dominiert, ja dominieren muss? Würde ohne die amerikanische Vorherrschaft, ohne die „Pax Americana“ der Naturzustand innerhalb und zwischen den Staaten ausbrechen? Oder kann die in der UNO vereinte Staatenwelt Instrumente und Methoden entwickeln, Konflikten vorzubeugen, sie zu entschärfen und sie notfalls gewaltsam zu beenden? Ist die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen eine Schimäre oder eine realistische Alternative zur Hegemonie der USA? Was heißt politischer Realismus?
Das ist, auf politischer Ebene, der Kern, das „Wesen“ des Streits um den amerikanischen Unilateralismus und die amerikanische Irakpolitik – auch in Deutschland. Aber gerade bei uns treten immer wieder Tendenzen zutage, rational entscheidbare politische Auseinandersetzungen umzupolen, ihren Kern in der ungelösten Frage der „deutschen Identität“ zu verlagern.
Schon bei der Kritik der ökologischen Bewegung trat an die Stelle einer Debatte über reale Gefährdungen oft eine rhetorische Figur, die das gemütvolle Verhältnis der Deutschen zu ihrem Wald, ihren angeblichen Naturmystizismus an den Pranger stellte. Bei der Friedensbewegung sollte es dann nicht um die absehbaren politischen Konsequenzen einer wechselseitigen Stationierung von Mittelstreckenraketen gehen, nicht um den „führbaren Krieg“ in Europa. Der Friedensbewegung wurde vielmehr unterstellt, im Zeichen des „deutschen Sonderwegs“ ihre wertvolle deutsche Haut retten zu wollen und sich den irrenden Wanderern zwischen Ost und West in die Arme zu werfen.
Gerade hierin besteht die Logik dieser Terrainverschiebung. Politische und soziale Bewegungen, die mit einsehbaren Gründen auf eine Neuorientierung drängen, werden zum bloßen Ausdruck einer angeblich noch nicht überwundenen deutschen Befindlichkeitskrise erklärt. Sie sind der Tendenz nach hysterisch. Man muss ihnen erst mal das Realitätsprinzip beibiegen, am besten auf dem Weg der Schocktherapie. Muss man extra darauf hinweisen, dass Diagnosen dieser Art der konservativen Heilkunst entstammen?
Auch heute, im Zeichen der drohenden amerikanischen Irakintervention, sehen wir wieder diese Seelenretter am Werk. Diesmal wird die Kritik an der drohenden Irakinvasion durch die USA in Zusammenhang mit einem angeblich unaufgearbeiteten und daher schwelenden deutschen Psychosyndrom in Verbindung gebracht: dem englisch-amerikanischen Bombenkrieg gegen Nazideutschland.
Hierzu bedarf es zunächst der Konstruktion einer Verdrängungsgeschichte. Es wird irrtümlich erstens behauptet, in der Literatur und Geschichtswissenschaft sei bis zum Erscheinen von Jörg Friedrichs „Der Brand“ keine nennenswerte Bearbeitung des Bombenkriegs erfolgt. Zum Zweiten und noch gravierender wird die These aufgestellt, die „Erlebnisgeneration“ habe die Erfahrung der Bombardierungen beschwiegen und verdrängt, erst jetzt, unter den Bedingungen eines „erlaubten“ Antiamerikanismus, breche das Verdrängte wieder auf und richte sich gegen die amerikanische Irakpolitik. Das Schicksal Dresdens werde mit dem drohenden Schicksal Bagdads parallelisiert.
Jeder, der wie der Autor dieser Zeilen die Nachkriegszeit als Kind erlebt hat, weiß, dass das Thema der Bombennächte in den Familien allgegenwärtig war. Von Verdrängung keine Spur. Den damaligen Erzählungen fehlte allerdings fast immer der anklagende Unterton. Zu deutlich stand den Menschen noch vor Augen, dass der alliierte Bombenkrieg eine Antwort war.
Gestützt auf diese Konstruktion kann der Spiegel in der Titelgeschichte 2/2003 die These aufstellen, der Rückgriff auf die Bombenangriffe von 1943 werfe ganz ähnliche Fragen auf wie die Debatte über die USA-Kriegspläne oder die russische Bombardierung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Zum Beweis führt der Spiegel ein Zitat des bündnisgrünen Politikers Wolfgang Ullmann an: „Wer wie ich die Bombardierung der nahezu vollkommen wehrlosen Stadt Dresden miterlebt hat, der ist für immer davon überzeugt, dass es keinen denkbaren Legitimationsgrund für diese Art von Waffengebrauch geben kann.“
Ullmann beschreibt einen Erfahrungshintergrund für eine politische Haltung. Die Haltung selbst, die Kritik an Bush, basiert hingegen auf einer Analyse der amerikanischen Politik (z. B. im Freitag vom 10. 1. 2003). Aber auf die einzugehen erübrigt sich ja, da Ullmanns Blick durch seine Traumatisierung getrübt ist.
Anspruchsvoller verfährt Richard Herzinger in seinem Artikel im Tagesspiegel vom 5. 1. 2003. Nach seiner These wollen viele Deutsche, auch die an der Regierung, heute nicht mehr wahrhaben, dass es die Amerikaner waren, die Deutschland befreiten – nach Herzinger die „Urszene“ der Bundesrepublik – und die die Demokratie brachten. Eine solche Einsicht vertrage sich nicht mehr mit dem neuen deutschen Selbstbewusstsein. Aus diesem Grunde müsse behauptet werden, dass es sich „bei der Gewaltanwendung der westlichen Siegermächte keineswegs um eine zivilisatorische Tat gehandelt habe, sondern um einen Rückfall in die Barbarei“.
Somit mischten sich in die Ablehnung des Irakkrieges projektive Züge, die „mehr mit den deutschen Selbstfindungsprozessen zu tun haben als mit den aktuellen Problemen des Mittleren Ostens“.
Solche großflächigen mentalitätsgeschichtlichen Darlegungen sind stets in Gefahr, Behauptungen an die Stelle von Beweisen zu setzen. So auch bei Herzinger. Hängt ein Staat mit über 50-jähriger, wechselvoller, von mehreren Demokratisierungs- und Zivilisationsschüben vorangebrachten Geschichte tatsächlich noch an einer „Urszene“? Und ist es denn ganz und gar unmöglich, dankbar anzuerkennen, dass uns die Amerikaner (und die anderen Alliierten) befreiten, dass sie uns die Grundlagen demokratischen und antiautoritären Verhaltens beibrachten – und gleichzeitig den amerikanischen Hegemonismus und die von ihm eingesetzten militärischen Mittel in unseren Tagen zu kritisieren? Das war übrigens schon die Haltung der linksradikalen deutschen Studenten, als sie den Krieg der USA in Vietnam verurteilten.
Am 20. Januar beschließt Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung mit dem Artikel „Im Herzen“ den Reigen der deutschen Verdachtspsychologen: „Friedrich hat an die mentalitätsgeschichtliche Quelle des deutschen Mainstream-Pazifismus gerührt: an die Wehrlosigkeitserfahrung gegenüber englischen und amerikanischen Bombenangriffen. Diese haben den westlichen Universalismus hierzulande vielleicht nachhaltiger diskreditiert, als bisher bewusst war […] Zwischen ,Brand‘ und Papst, zwischen Amerika-Skepsis und Türkenfurcht bewegt sich ein Geist, der, mit Matthias Claudius, ,begehrt, nicht Schuld daran zu sein‘. Das aber heißt: die politische Diskussion über den Krieg müsste erst noch beginnen.“ Auch hier die haltlose These von Schmerz und Traumatisierung, vom Weiterwirken einer Urszene. Auch hier ein Federstrich, mit der die Aneignung universalistischer Werte im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte geleugnet wird.
Aber: eine hübsche Pointe. Seibt ruft nach dem Beginn einer wirklichen politischen Diskussion jenseits der Psychobarrieren, die er selbst konstruiert hat. Hier können wir den besorgten Mentalitätserforscher beruhigen. Die Diskussion läuft bereits. Und sie betrifft politisch das Wesen der Sache.
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