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Ehre und hohle Männlichkeit

Die sprachlose Angst der jungen männlichen Verlierer. Ein Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler und Sozialarbeiter Hakan Aslan über die Männlichkeitsbilder türkischer und arabischer Heranwachsender und ihre Kollision mit der Realität

Interview ALKE WIERTH

taz: Was sind das für Jungen, mit denen Sie arbeiten?

Hakan Aslan: Ich arbeite mit Jungen im Alter von 12 bis 16, 17 Jahren. Sie kommen hauptsächlich aus finanzschwachen und kinderreichen Familien mit türkischem oder arabischem kulturellem Hintergrund. Ich bezeichne sie als doppelt Sprachlose, da die meisten weder Deutsch noch die Sprache ihrer Eltern richtig beherrschen.

Was für eine Vorstellung von Männlichkeit haben denn die Jungen in diesem Alter?

Das Bild von Männlichkeit, das sie mitbringen, ist vor allem familiär geprägt: Sie werden als erwünschte Stammhalter geboren und merken bald, dass sie mehr Freiheiten und Rechte haben als die Frauen der Familie, als die Schwester, dass sie sogar Rechte über die Schwester haben, ihr Befehle geben können. Das ist zunächst privilegiert. Doch bald merken sie, dass sie auch Pflichten haben, die aber erheblich schlechter definiert sind. Wie sie nicht zu sein haben, ist klar: nicht wie die Mutter, nicht wie die Schwester – nicht weiblich. Und was weiblich ist, haben sie durch die Mutter erfahren: Sie war die, die sie gepflegt hat, gefüttert hat, die zärtlich war, Zuneigung gezeigt hat. Genau diese positiven Seiten hat der Junge dann abzustreifen. Das ist ein schmerzhafter Prozess, da wird der Grundstein für eine emotionale Verkümmerung gelegt.

Und wie sieht die männliche Rolle aus?

Die männliche Rolle ist viel weniger definiert. Die ist für ihn nur in Äußerlichkeiten erkennbar. Er lernt, dass Männlichkeit etwas mit Stärke zu tun hat, Stärke zeigen nach außen; auch mit Ehre. Der Begriff der Ehre ist eine der wichtigsten Triebfedern in der Sozialisation türkischer Jungen. Denn für die Verteidigung der Ehre der gesamten Familie ist der Mann zuständig, und das heißt auch der Sohn. Doch die Kenntnisse der Jungen über ihre eigene Kultur, auch den Ehrbegriff, sind rudimentär, für sie sind diese Begriffe leere Hülsen. So kommt es vor, dass sie in missverstandenen Situationen, in denen sie davon ausgehen, dass ihre Ehre angegriffen wurde oder dass es jemand auf die Ehre ihrer Familie abgesehen hat, lieber zuschlagen, als dass sie sich später vorwerfen lassen müssen, sie hätten nicht reagiert.

Also gehört zu dem Bild von Männlichkeit auch Gewaltanwendung?

Das gehört durchaus dazu, sei es physische oder strukturelle Gewalt. Die jungen Männer werden als delikanli, als „Wildblütige“, bezeichnet, und in dieser Altersphase wird geradezu von ihnen erwartet, Grenzen auszutesten, um so ihren Mut und ihre Tapferkeit zu trainieren.

Wieso funktioniert denn die Überlieferung der klassischen Männerrolle bei den Jungen nicht mehr?

Zum einen ist der Vater in der Erziehung ja eigentlich nicht vorhanden. Er hat diese Rolle der Mutter übergeben, und ist somit schon ein Vorbild: durch seine Nichtexistenz. Der Junge lernt: So hat ein Vater, ein Mann zu sein, in der Erziehung, in emotionalen Fragen nicht da zu sein. In relativ homogenen ländlichen Gebieten in der Türkei mögen diese Geschlechterrollen noch funktionieren. Aber schon in der Stadt weichen sie auch in der Türkei inzwischen auf. Zum anderen hat das mit der Migration zu tun: Vielen Jungen erscheinen ihre Väter als Versager. In Gesprächen mit den Jungen dauert es eine Weile, bis sie sich trauen, die Väter zu kritisieren. Der erste Satz ist natürlich immer: Mein Vater ist toll. Doch wenn ich ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut habe, dann rücken sie mit der Sprache raus, und ich erfahre: Es gibt viele Punkte der Kritik am Vater. Sie nehmen ihn nicht ernst, weil er es in ihren Augen zu nichts gebracht hat hier in Deutschland. Am deutlichsten wird es, wenn er arbeitslos ist und kein Geld nach Hause bringt. Das heißt, der Respekt, den sie ihm gegenüber zeigen, der ist nicht echt, nicht ehrlich.

Und deshalb gehen sie davon aus, dass auch ihnen ihre Umgebung keinen echten Respekt entgegenbringt?

Ja, sie wissen nicht, wie Respekt ehrlich zu erlangen ist. Autorität wird mit autoritärem Gehabe verwechselt: Wenn ich mich autoritär gebe, Macht demonstriere, dann hat mein Umfeld Angst vor mir und respektiert mich scheinbar. Aber dass autoritäres Gehabe nicht das Gleiche ist wie Autorität haben, das wissen sie nicht. Sie verwechseln Respekt mit Angst. Hinzu kommt noch eine kulturelle Komponente: In der Familie werden die Jungen sozialisiert in dem Bewusstsein, ein Rad in einem ganzen System zu sein. Ihre Individualität ist nicht so sehr gefragt, sondern sie haben zu funktionieren für das Wohl der Familie, der Gemeinschaft. Das heißt, ihre persönlichen Wünsche, Vorstellungen, ihre sexuellen Bedürfnisse müssen zurückstehen. Sie erfahren dann aber in der deutschen Gesellschaft, spätestens in der Schule, dass dort viel mehr Wert gelegt wird auf Individualität, und damit kommen sie nicht zurecht.

Was sind denn so typische Konfliktsituationen, in die die Jungen in der Schule geraten?

Ich habe von Fällen gehört, in denen Lehrerinnen als „deutsche Schlampen“ beschimpft wurden. Und die Lehrerinnen wussten dem nichts entgegenzusetzen.

Wie kommt jemand dazu?

Zum einen ist die Lehrerin eine Frau, und der Jugendliche hat ja durch seine Herkunftskultur gelernt, dass Frauen unter den Männern stehen, und dass er sich als Mann von einer Frau nichts zu sagen lassen braucht. Hinzu kommt das Bild von Ehre und Sexualität, das er mitbringt und das relativ starr ist. Und dann dass die relative sexuelle Freizügigkeit, die im westlich geprägten Deutschland möglich ist, nicht deckungsgleich ist mit dem, was er zu Hause gelernt hat. Um sein Weltbild zu rechtfertigen, muss er dann eine Bewertung vornehmen.

Warum wird an solchen Bildern denn so festgehalten?

Weil es in ihrem Leben keine Institution – sei es Schule oder Freizeit oder Elternhaus – gibt, die ihnen tatsächlich lebbare Alternativen bietet. Oft werden sie ja von beiden Seiten als Gefahr gesehen, den Eltern sind sie schon zu sehr entfremdet, nicht mehr türkisch genug, und die deutsche Seite empfindet sie als noch nicht integriert genug. Das heißt, auf beiden Seiten fühlen sie sich nicht willkommen. Eine Integration wäre möglich, wenn sie partizipieren könnten. Partizipation wäre möglich, wenn sie die sprachlichen Fähigkeiten, den sozialen oder wenigstens den finanziellen Hintergrund hätten, aber all das haben sie nicht.

Wenn die Lage sich nicht ändert, was wird aus den Jungen, wo sehen Sie die in zehn, zwanzig Jahren?

Wenn sich nichts ändert, sehe ich einen Großteil dieser Jungen, die ja nicht nur von der Gesellschaft als Verlierer betrachtet werden, sondern sich auch selbst inzwischen so sehen, entweder in Drogenkarrieren, oder sie werden, wenn sie Glück haben, verheiratet, und das ist angesichts ihrer Sozialisation wirklich das Beste, was ihnen dann passieren kann: dass sie Kinder kriegen und für eine Familie sorgen müssen; dann kommen sie vielleicht von einer potenziell kriminellen Laufbahn ab.

Sie sehen sie nicht in radikal-islamischen Gruppen?

Das ist auch eine Gefahr. Ich sehe es sowohl in den Kindergruppen, mit denen ich arbeite, als auch bei den Jungen, dass religiöse islamische Institutionen immer mehr die Hände ausstrecken und auch den Freizeitbereich inzwischen besetzen. Das heißt, dass in den Moscheen auch ein Kicker steht, dass man dort Hausaufgabenhilfen anbietet etc. Ich möchte nicht allen unterstellen, dass sie Gehirnwäsche mit den Jugendlichen betreiben, aber ich finde, dass Erziehung Aufgabe der Familie und der Schule sein sollte. Und nicht religiöser Institutionen.

Wie können deutsche Pädagogen, LehrerInnen, ErzieherInnen besser mit diesen Jugendlichen klarkommen?

Ich habe kein Pauschalrezept, aber ich denke, dass mehr interkulturelle Kompetenz gefragt ist. Dass sie dadurch mehr Möglichkeiten, ein reichhaltigeres Handwerkszeug hätten, um den Jungen zu begegnen. Zum Beispiel das bewusste Einsetzen von Autorität. Ich kann, glaube ich, guten Gewissens deutschen Lehrern zu etwas mehr Autorität raten. Aber nicht ohne die Kenntnis des jeweiligen kulturellen Hintergrunds. Denn es ist wichtig, dass die Autorität nicht die gleiche aufgesetzte, nur aus der Rolle abgeleitete ist, die die Jungen von den Vätern kennen. Männliche Lehrer müssten sich trauen, lebbare Vorbilder zu sein. Und es werden mehr Männer gebraucht in pädagogischen Berufen: als Erzieher, als Sozialarbeiter. Das kann – traurig, aber wahr – nur geschehen, wenn diese Berufe sozial aufgewertet werden. Dazu gehören bessere Bezahlung und höheres gesellschaftliches Ansehen. Pädagogische Berufe gelten auch hier noch als unmännlich.

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