: Aufstehen gegen diesen Krieg
Rund eine halbe Million Menschen demonstrieren gegen einen drohenden Krieg gegen den Irak. Sie waren mit mehr als 750 Reisebussen aus der ganzen Republik in die Hauptstadt gekommen. Mit dabei sind auch US-Amerikaner und Exil-Iraker
von AGNES CIUPERCA, CHRISTOPH TITZ und MATTHIAS BRAUN
„Darf ich mal deine Fahne tragen“, fragt eine Unbekannte, die seine Mutter sein könnte. Sarmad Ahmad, 15-jähriger Exiliraker und an diesem Samstag Berliner Friedensdemonstrant, stutzt. Was will die mit seinem an eine Holzlatte genagelten Tuch in Schwarzweißrot, den Nationalfarben des Irak? Über den Kundgebungsplatz am Großen Stern hallt in diesem Moment die Stimme Friedrich Schorlemmers: „Wir stehen auf gegen diesen Krieg, und wir stehen ein für das Ausschöpfen aller zivilen Möglichkeiten.“ Vielleicht ist es das. Die Friedensfrau will eine zivile Möglichkeit ausschöpfen. Befreundete Fahnen zu tragen, gehört auf dieser größten deutschen Friedensdemonstration seit 20 Jahren wohl dazu. Sarmad gibt die Fahne ab.
An diesem Samstag herrscht in Berlin ein Minimalkonsens. „Kein Krieg im Irak“, lautet der. Und er macht es möglich, dass grüne Bundesminister, hohe SPD-Funktionäre, 80er-Jahre-Friedensbewegte, kurdische Öcalan-Fans, Schauspieler und Mitarbeiter der Lindenstraße, Exiliraker und Umweltschützer ein und diesselbe Demonstration besuchen. In rund 750 Bussen kamen die Teilnehmer nach Berlin. Ungefähr 500.000 Kriegsgegner, deutlich mehr als erwartet, wollen von Gedächtniskirche und Alexanderplatz zur Siegessäule laufen.
Auch Dorothea Schmidt. Die 18-jährige Köpenicker Schülerin ist erkältet. Trotzdem hat sie sich pünktlich um zwölf zum Demoauftakt an den Fernsehturm geschleppt. Denn sie ist verabredet. Doch vor lauter Demonstranten ist ihr date nicht zu sehen. Sie friert. Sie wartet. Über Handy erfährt sie: Er wartet am Wagen der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienst und Militär“ am Neptunbrunnen. Eine Viertelstunde dauert es, bis Dorothea sich dorthin durchgekämpft hat. Vorbei an PDS-Aktivisten, Gewerkschaftern, Palästinensern.
Er – das ist Ludwig Baumann, 81, Wehrmachtsdeserteur, Träger des Bundesverdienstkreuzes, klein, weißhaarig, mit Schiebermütze. „Ich bewundere Herrn Baumann sehr“, sagt Dorothea. Am Vorabend hatte beide an der Kurt-Schwitters-Oberschule eine Ausstellung über Deserteure im Zweiten Weltkrieg eröffnet. „Wenn Deutschland bald wieder im Krieg steht, ist Desertion ein hochaktuelles Thema.“
„Ich habe für heute etwas Längeres vorbereitet“, sagt Baumann. Aber das haben viele hier. Sambatrommel und U 2 von der Konserve lärmen durcheinander. Als Baumann dann tatsächlich noch redet, klatschen paar Leute, die direkt am Wagen stehen. Dorothea ist zufrieden. Jetzt kommt Bewegung in die Leute. Als gegen 14 Uhr die Abschlusskundgebung am Stern beginnt, haben Baumann und die Wehrdienstgegner ihren Marsch zur Siegessäule noch vor sich.
Eve Block und Isabel Cole waren etwas schneller. Die zwei stehen mit einem Blümchentransparent Unter den Linden. „Not in our name – AmerikanerInnen gegen den Krieg“, haben sie draufgepinselt. Eve hat Gender Studies in New Jersey studiert. Deshalb kennt sie sich mit der geschlechtsneutralen Schreibweise aus. Etwas durchfroren lesen sich die Frauen andere Transparente vor und lauschen den Sprechchören. „Schröder, mach den Luftraum dicht. Wir wollen den Irakkrieg nicht“, brüllt einer mit blonden Rastahaaren in sein Megafon. Er heizt seinen Kumpels immer wieder ein: „Lauter!“ Dann gibt er Parolen vor und beschleunigt von Mal zu Mal das Tempo.
Die amerikanische Friedensaktivistin Eve ist auch hier, um die Demonstrationskasse zu füllen. Einen Euro kosten ihre Buttons und Aufkleber. Das Geld wandert erst eimal in einen blauen Eimer, der immer schwerer wird. Bei den Demonstranten sitzen die Euros für die gemeinsame Sache locker.
Vor vier Monaten kam die 23-jährige Eve als Praktikantin zum „Versöhnungsbund“ nach Berlin. Den heutigen Tag hat sie mit vorbereitet. Deshalb freut sie sich über die fantasievollen Transparente. Vor allem über dieses: Neben dem Kopf von Lisa Simpson steht „Dufte Amerikaner“. Daneben ist der Kopf von Georg Bush zu sehen mit den Worten: „Doofe Amis“. Außerdem sind im Angebot: „Brezeln statt Bomben“ und „Kein Rums in kein Feld“.
Die amerikanischen Demonstranten fühlen sich als Stellvertreter der US-Friedensbewegung. „Geh und sag den Deutschen, dass wir Bush und seine Politik auch nicht mögen“, haben Isabel Coles Freunde ihr von zu Hause geschrieben. Seit sieben Jahren ist die Übersetzerin mittlerweile in Berlin. Vor zwei Wochen hat Isabel Eve auf der Berliner Montagsdemo getroffen. Da haben sie beschlossen, den US-Protest in Berlin zu organisieren. Zwanzig Landsleute haben sie für heute versammelt. Aber im Gedränge sind die verloren gegangen. Eve und Isabel hoffen, dass die anderen zu ihrem Blümchentransparent zurückfinden. Suchen ist zwecklos.
Das weiß auch Nikolaus Huhn. Der Umweltaktivist aus dem thüringischen Schlöben hat zwei Busse voll Menschen aus Jena nach Berlin dirigiert. Jetzt, nach der Kundgebung, vermisst er einen Mitfahrer. Seit einer Stunde warten die Busse auf den 91-jährigen Herrn Abele. „Ich hab ja die Verantwortung für die Leute“, sagt Huhn. Außerdem habe der Verlorengegangene auf der Herfahrt die Friedenstouristen mit rheinischen Stimmungsliedern unterhalten. „Verstanden hat ihn keiner. Aber gelacht haben alle.“ Huhn zuckt hilflos mit den Schultern. Die rheinische Frohnatur findet er unter den nach Hause strömenden Demonstranten nicht wieder.
Inzwischen hat Sarmad Ahmad seine Fahne zurück. „Es hat mich stolz gemacht, sie zu tragen“, hat die Unbekannte zum Abschied gesagt. Der junge Exiliraker kapiert nicht ganz, freut sich aber über das Kompliment. Auf dem Fahnentuch hat er den Spruch „Alla-u-akbar“ überklebt. Den hatte Saddam Hussein während des ersten Golfkriegs der Nationalflagge hinzugefügt. Sarmad ist gegen Hussein. Aber er ist auch gegen einen amerikanischen Angriff auf sein Land. „Der Irak soll ein demokratisches Land werden, mit religiöser Freiheit und so weiter.“ Natürlich wolle er dorthin zurück. „Aber wenn Sadam Hussein fällt, wird er Irak nicht gleich zum Paradies“, sinniert Sarmad. Ob die Einigkeit vom Samstag hält, wenn es irgendwann um solche Detailfragen geht, weiß weder er noch ein anderer der Demonstranten vom 15. Februar 2003.
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