DIE MASSENDEMONSTRATIONEN GEGEN EINEN IRAKKRIEG NUTZEN EUROPA: Krieger in der Defensive
So plötzlich kann sich die Stimmung wenden. Noch vor einer Woche hätten selbst die größten Optimisten aus der Friedensbewegung bestenfalls geglaubt, einige zehntausend Demonstranten gegen den drohenden Irakkrieg auf die Straße zu bringen. Schließlich hatte sich die Bundesregierung bereits eindeutig gegen einen Militärschlag positioniert. Und auf internationaler Ebene schien der Angriff ohnehin nicht mehr aufzuhalten.
Schien. Denn innerhalb von nur einer Woche hat sich der Wind gedreht. Im UN-Sicherheitsrat sprach sich sogar eine Mehrheit der Vetomächte gegen einen Krieg zumindest zum jetzigen Zeitpunkt aus. Die USA mussten eine Verlängerung der Waffeninspektionen hinnehmen. Binnen weniger Tage tat sich ein Fenster auf, das Millionen von Menschen in Europa und auf der ganzen Welt plötzlich die Hoffnung gab, selber etwas bewirken zu können – indem sie einfach auf die Straße gingen und der Forderung nach einer friedlichen Lösung des Irakkonflikts Nachdruck verliehen.
Was sich in den vergangenen Wochen nur in der Form von dürren Umfragezahlen abzeichnete, war am Samstag endlich ganz plastisch zu besichtigen: Während die Regierungen weiter über eine gemeinsame Linie in der Außenpolitik streiten, hat sich unterhalb der politischen Institutionen eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit etabliert. Den Regierungen wird es nach diesem Protestwochenenden schwerer fallen als zuvor, diese Öffentlichkeit zu ignorieren. In einer repräsentativen Demokratie müssen die Regierenden zwar nicht immer tun, was die Mehrheit verlangt. Aber wenn Regierungschefs in der wichtigen Frage von Krieg und Frieden in einen derart krassen Widerspruch zu ihren Wählern begeben wie Blair, Aznar und Berlusconi, dann bekommen sie ein Problem.
In Deutschland ist es die konservative Opposition, die durch die Proteste vom Wochenende mehr noch als bisher ins Schlingern gerät. An der Behauptung, die rot-grüne Regierung habe sich in der Irakfrage völlig isoliert, kann die Union jedenfalls nicht mehr festhalten. Im Gegenteil: Selbst vom britischen Premier sind nach der größten Demonstration in der Geschichte des Landes versöhnlichere Töne zu vernehmen. Beim morgigen EU-Gipfel in Brüssel wird es darauf ankommen, diese Tendenzen aufzunehmen – und den Kriegsbefürwortern eine Brücke zu bauen, über die sie zu einem gemeinsamen europäischen Weg zurückfinden können. Das muss die USA noch lange nicht beeindrucken. Aber die europäische Einigung hätten die Demonstranten vom Wochenenden dann wenigstens vorangebracht. RALPH BOLLMANN
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