: Atomkraftwerk wird abgeschaltet
Der GKSS-Forschungsreaktor in Geesthacht neben dem AKW Krümmel wird nach 52 Jahren 2010 stillgelegt. Der Verdacht, die beiden Meiler seien verantwortlich für die weltweit höchste Dichte an Leukämiefällen in der Elbmarsch, wurde nie bewiesen
Die GKSS-Forschungszentrum Geesthacht GmbH ist eine gemeinnützige Einrichtung des Bundes und der Länder Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Brandenburg. Sie gehört organisatorisch zur Helmholtz-Gemeinschaft, dem größten Zusammenschluss von Forschungszentren in Deutschland. Der Etat lag 2006 bei etwa 68 Millionen Euro, weitere 15,4 Millionen Euro wurden über Aufträge und Projektförderung eingenommen. Die GKSS beschäftigt knapp 800 Mitarbeiter. Die Einrichtung wurde 1956 gegründet als Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt. Der Name bezog sich auf den ersten Auftrag, einen Nuklearantrieb für Schiffe zu entwickeln. Von Mitte der 1960er Jahre bis 1979 fuhr Europas einziger Atomfrachter „MS Otto Hahn“ über die Ozeane. Dann wurde das Schiff wegen erwiesener Unwirtschaftlichkeit außer Dienst gestellt. SMV
VON SVEN-MICHAEL VEIT
Der erste Atommeiler in Schleswig-Holstein wird stillgelegt. Der Reaktor des GKSS-Forschungszentrums in Geesthacht soll in zwei Jahren abgeschaltet werden. Das bestätigte GKSS-Sprecher Torsten Fischer der taz. „Technisch könnte er noch jahrzehntelang weiter betrieben werden“, beteuert Fischer, „aber es ist nicht mehr wirtschaftlich“. Zum 50. Jahrestag der Indienststellung fiel deshalb nun die Entscheidung der Gesellschafter aus Bund und Ländern (siehe Kasten). Am 23. Oktober 1958 war der FRG-I als zweiter Kernreaktor Deutschlands in Betrieb gegangen. Seine Aufgaben sollen künftig in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Elektronen-Synchroton (Desy) in Hamburg und einer Forschungseinrichtung in Garching bei München erledigt werden.
Bei Umweltschützern stehen der Forschungsreaktor und das benachbarte Atomkraftwerk Krümmel seit langem im Verdacht, für die ungewöhnlich hohe Zahl von Leukämiefällen in der Elbmarsch verantwortlich zu sein. Seit 1990 waren in der Umgebung Geesthachts 16 Kinder unter 15 Jahren an Blutkrebs erkrankt und fünf weitere in der niedersächsischen Samtgemeinde Elbmarsch am Südufer des Flusses. Vier der 21 Kinder sind inzwischen gestorben. Weltweit handelt es sich um die höchste Dichte an Leukämieerkrankungen.
Mehrere Untersuchungen hatten aber keine Hinweise dafür geliefert, dass einer der beiden Meiler die Ursache für die Krankheitsfälle sein könnte. Eine 2007 veröffentlichte Analyse von 17 Studien aus sieben Ländern hatte jedoch eine rechnerisch erhöhte Blutkrebsrate bei Kindern in der Nähe von Atomkraftwerken festgestellt. Beweise aber fehlen bis heute. GKSS wüsste selbst gern die Ursachen, sagt Fischer. „Bei uns aber gab es keinen Brand, keinen Unfall und keine geheimen Experimente“, versichert er im Hinblick auf häufig geäußerte Vorwürfe von Atomkraftgegnern.
Denn unter anderem soll bei einem vertuschten Zwischenfall am 12. September 1986 radioaktive Strahlung freigesetzt worden sein. „Wir haben aber nichts gefunden“, sagt Andreas Meihsies. Vor gut einem Jahr hatte der damalige grüne Abgeordnete im niedersächsischen Landtag zusammen mit einem atomkritischen Physiker Einblick in das GKSS-Archiv gefordert – und erhalten. Sie prüften im Original sämtliche Unterlagen wie Schichtbücher, Messstreifen oder Entsorgungsnachweise für das radioaktive Material, „schlüssige Nachweise fanden wir nicht“, bestätigte Meihsies am Donnerstag auf Anfrage der taz erneut: „Es waren weder Manipulationen noch Abweichungen in der Aufzeichnungssystematik erkennbar.“
Gleichwohl begrüßen Meihsies wie auch Fischer weitergehende Untersuchungen der Leukämiefälle, die der schleswig-holsteinische Landtag im Februar 2008 in Auftrag gegeben hatte. Diese Studie wird in Kooperation mit der Radiologie des Hamburger Universitätskrankenhauses Eppendorf (UKE) durchgeführt. „Die Ergebnisse dürften Ende dieses Jahres vorliegen“, schätzt Christian Kohl, Sprecher des schleswig-holsteinischen Sozialministeriums, das für die Atomaufsicht zuständig ist. Es sei vorgesehen, die Untersuchung dann in einem Fachgespräch oder Workshop mit internationalen Experten zu debattieren.
Für Fischer allerdings ist es nicht vorstellbar, dass sein Forschungsreaktor ursächlich für die Krankheitsfälle ist. Der FRG-I sei kein Atomkraftwerk im eigentlichen Sinne, das Energie produziere: „Wir erzeugen ausschließlich Neutronen für wissenschaftliche Arbeiten, zum Beispiel zum Durchleuchten von Materialien. Das ist so ähnlich wie Röntgenstrahlen.“
In der Tat ist der Forschungsreaktor mit einer Leistung von fünf Megawatt (MW) kaum zu vergleichen mit dem seit Juni vorigen Jahres nach einem Brand abgeschalteten AKW Krümmel. Er arbeitet mit 25 Brennstäben aus abgereichertem Uran, der benachbarte Siedewasserreaktor, mit 1.440 MW einer der größten in Deutschland, hat 840 hoch angereicherte Brennelemente. Und die jährliche durchschnittliche Strahlenbelastung in der Umgebung des GKSS entspricht mit 0,01 Millisievert einem Jahr regelmäßigen Fernsehkonsums oder einem Urlaubsflug nach Mallorca.
Zehn Jahre werde es etwa dauern, um die Anlage vollständig zurückzubauen, schätzt Fischer. „Dann haben wir hier wieder eine grüne Wiese.“
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