: Orientierung in der wuselnden Welt
Die so genannten Besten und der so genannte Rest: Die gegenwärtige Eliten-Debatte hat eine Rückseite – in ihr drücken sich immer noch apokalyptische Visionen von einer Vermassung aus, die offensichtlich nach wie vor zur Mythologie der bürgerlichen Mittelschichten gehören. Leider, muss man sagen
VON BEATE KRAIS
Die Sehnsucht nach der Aristokratie, die in ihrer unbestrittenen Distinguiertheit zugleich Vorbild und doch unerreichbar ist, scheint in der differenzierten, demokratischen Gesellschaft der Moderne offenbar unausrottbar zu sein. Kaum haben einige SPD-Politiker in ihrer Verzweiflung über die mangelnde Gestaltungskraft einer vom Föderalismus gelähmten Republik die Idee von den Elitehochschulen in die Welt gesetzt, hebt allerorten wieder das Gerede über die Notwendigkeit von Eliten und Elite-Bildungseinrichtungen in unserem Land an. Bemerkenswert daran ist vor allem, dass in diesen Chor keineswegs nur die konservativen Hardliner einstimmen, sondern immer auch, nun ja, nicht gerade die Linke, aber doch die weltoffen, liberal und modern sich gerierenden jungen Gebildeten, die sich nicht scheuen, für die taz zu schreiben. Eben hatten wir noch gehört, dass unser hoch selektives Bildungswesen vor allem eine Menge von Analphabeten und eine viel zu kleine Gruppe von gut gebildeten Abiturienten und Akademikern produziert, da soll dies alles Schnee von gestern sein. Was wir brauchen, so heißt es, ist nicht etwa eine große Mehrheit von gebildeten und zivilisierten Bürgerinnen und Bürgern, nein, was wir wirklich brauchen, ist eine kleine, feine Elite.
Damit wird ein Begriff verwendet, der seine Blütezeit im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte. Er wurde zum politischen Kampfbegriff des Bürgertums in einer Situation, die von tief greifenden gesellschaftlichen Umwälzungen geprägt war. Das Bürgertum, das in seinem Aufstieg zur dominanten gesellschaftlichen Kraft fast überall in Europa durch die politischen Strukturen der alten, feudalen Gesellschaft noch empfindlich eingeschränkt war, sah sich zugleich von einer anderen Seite bedroht: durch die neuen, lohnabhängigen Schichten, die Demokratie und gesellschaftliche Teilhabe auch für sich beanspruchten. Die „Masse“ wurde zum Schreckensbild, die Herrschaft der Eliten zum rettenden politischen Konzept. So ist der Elitenbegriff von Anfang an gebunden an den Gegenbegriff der „Masse“, verstanden als ein chaotisches, entindividualisiertes und irrationales Ensemble von Menschen. Es verwundert nicht, dass diese Vorstellungen von einer Elite, die sich über die „Masse“, die verachtete Mehrheit der Bevölkerung, erhebt, von den Faschisten aufgegriffen wurde, zunächst von Mussolini, der bei dem „Elitentheoretiker“ Pareto in Lausanne studiert hatte. Dieser hatte ein Verständnis von Gesellschaft entworfen, das in einer Art ewiger Ordnung von einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Masse und Elite ausgeht. Es ist dann Sache der Elite, die breite Masse der mittelmäßigen und erfolglosen Menschen durch den Appell an deren Instinkte ruhig zu stellen und zu führen.
Damit wollen nun die neuen Verfechter der gesellschaftlichen Elite nichts zu tun haben. Sie meinen eine Elite, die demokratiekompatibel gedacht wird, eine Elite, die sich auf Leistung gründet. Was aber ist Leistung? Und wer stellt fest, was eine Leistung ist? Es geht ja nicht um irgendwelche Leistungen, die im Stillen erbracht werden, etwa wenn ein Hobbygärtner eine Rose von noch nie da gewesener Schönheit gezüchtet hat und diese dann seiner Frau schenkt. Es geht durchaus um öffentlich sichtbare, öffentlich anerkannte Leistungen. Die bürgerliche Gesellschaft hat ein gut handhabbares und allgemein akzeptiertes Maß für die Anerkennung von Leistung entwickelt: Geld. Es gibt Leistungen, die hoch bewertet werden und daher, sofern sie in Form von Erwerbsarbeit erbracht werden, mit hohem Geldeinkommen verbunden sind. Auch die Art und Weise, wie die Bewertung von Leistungen vorgenommen wird, ist dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft angemessen: Sie ist Verhandlungssache; die Beteiligten bringen jeweils ihre Marktmacht in die Verhandlung ein.
Dieses Verständnis von Leistung und einer auf dem damit verbundenen hohen Einkommen sich gründenden Elite trifft jedoch nicht das, was der neue Diskurs über Elite meint. Dass „Leistung sich lohnen soll“, auch finanziell, mag immer mit gedacht sein, aber im Kern geht es um etwas anderes, nämlich um eine Vorstellung von den „Besten“, von einem „Leistungsadel“, der auch Vorbild sein kann. Da fallen Begriffe wie „wirkliche Elite“ oder „Geisteselite“; im Artikel von Wolf Lotter in der taz vom 9. Januar werden, bezogen auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die Intellektuellen, die Wissenschaftler, die Schriftsteller der Weimarer Republik genannt und dann die „vielen Außergewöhnlichen“, die „Minderheit, die Elite des Widerstands“. Bildung ist also, jedenfalls in Deutschland, immer mit im Spiel. Vor allem aber geht es darum, das „Mittelmaß“, kurzum: die „nivellierte Masse“ hinter sich zu lassen – und hier finden wir sie wieder, die Entgegensetzung von Masse und Elite, die Verachtung für den „Rest“ der Bevölkerung, der kein Rest ist, sondern die Mehrheit.
Die apokalyptischen Visionen von der „Nivellierung“ und „Vermassung“ gehören offensichtlich nach wie vor zur Mythologie der bürgerlichen Mittelschichten, insbesondere der Bildungsschichten. Wenn man genauer ins Auge fasst, wer da gegenwärtig die Notwendigkeit von Eliten und Elite-Bildungseinrichtungen beschwört, dann muss man feststellen, dass sich hier vor allem die Kleinbürger des kulturellen Sektors zu Wort melden. Das vielfältige, bunte und lebendige Gewusel der demokratisch verfassten, arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft der Moderne scheint immer auch zu tiefer Verunsicherung über den eigenen Ort im sozialen Raum zu führen. Da haben nun, im Zuge der Bildungsexpansion der Siebziger- und Achtzigerjahre, die Kinder des alten Kleinbürgertums in Bildung investiert, was immer ein mühsames, langwieriges, mit Verzicht und Askese verbundenes Unternehmen ist. Sie haben studiert, als Erste in ihrer Familie, und sind Journalisten geworden oder Moderatoren im Fernsehen. Sie haben es geschafft – und müssen doch feststellen, dass ihr Leben nach wie vor existenziellen Unsicherheiten ausgesetzt ist: Der Arbeitsmarkt ist problematisch; wer eine richtige Stelle und ein gutes Einkommen hat im Mediensektor, kann sich glücklich schätzen; und mit dem, was man schreibt oder sagt, muss man sich halt nach der Linie des Hauses richten. So richtig „ganz oben“, nämlich einer, der selbst die Maßstäbe setzt und die Richtlinien vorgibt, ist man immer noch nicht. Man braucht also Orientierungspunkte, Vorbilder, am besten gar, wie Wolf Lotter sich dies wünscht, ein „einheitliches Elitenbild“.
Wie die Fülle der Lifestyle-Zeitschriften, die Rolle der „Marke“ bei Kleidung und Auto, die sehr in Mode gekommenen Gastronomiekritiken und der Erfolg des „Manieren“-Buchs von – ja, von wem eigentlich? von dem echten Prinzen aus dem äthiopischen Kaiserhaus oder doch eher von Hans Magnus Enzensberger und Martin Mosebach, wie Katharina Rutschky meint? – beim gebildeten Publikum zeigen, ist auch in Fragen des Lebensstils die Verunsicherung groß. Das Kaiserhaus, das in der „guten Gesellschaft“ Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg die Maßstäbe setzte für die richtige Lebensführung, für Geschmacks- und Stilfragen, gibt es nicht mehr, und kein funktionales Äquivalent ist an seine Stelle getreten. Die Gesellschaft der Moderne kennt nur die pluralistisch differenzierte „Prominenz“, und so finden die einen in erfolgreichen Spitzensportlern, die anderen in öffentlich auftretenden Intellektuellen oder Künstlern, wie früher einmal im Paar Sartre/de Beauvoir oder in Brecht, ihre Orientierungsfiguren für Fragen des körperlichen Habitus, der Wahl der Kleidung, der Orte, die man besucht, der Wohnungseinrichtung usw. Exklusivität und ihre äußeren Anzeichen sind damit nicht nur dem Wandel unterworfen, sie bleiben vielfältig und strittig, statt dem Streit der Meinungen und Positionen ein für alle Mal entzogen zu sein.
Sicherheit in einer unübersichtlichen Welt können aber auch Elitehochschulen bringen, jedenfalls, wenn man ihre Bedeutung als Bildungseinrichtungen in den Blick nimmt. Die Hochschule, die gegenwärtig nach dem Modell von Harvard oder der französischen grandes écoles als „Eliteuniversität“ erträumt wird, leistet zweierlei: Sie bringt zunächst ihren Zöglingen bei, wie man sich zu benehmen hat. Sie vermittelt, das ist jedenfalls die Erwartung, einen spezifischen Elite-Habitus – auch jenen, denen er nicht schon in die Wiege gelegt wurde. Im deutschen Kaiserreich hatten die studentischen Korps diese Aufgabe übernommen; die ihrem Selbstverständnis nach auf die Bildung des Geistes ausgerichtete Universität in der Humboldt’schen Tradition leistet dies ausdrücklich nicht. Was sie, entgegen ihrem Selbstverständnis, heute in der Ausbildung eines bestimmten Habitus dennoch leistet und auch, was sie unter anderen ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingungen leisten könnte, wäre eine lohnende Frage für eine empirische Untersuchung.
Weit wichtiger aber scheint ein zweiter Aspekt: Eine mit dem Etikett „Eliteuniversität“ versehene Hochschule sichert den Zugang zu den gesellschaftlichen Spitzenpositionen. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass alle einflussreichen Männer der USA in Harvard waren, dass die französischen grandes écoles ihre Absolventen automatisch und sofort in die höchsten Positionen des Staates und der Wirtschaft katapultieren. Der Besuch einer Eliteuniversität schützt also vor Konkurrenz, enthebt ihre Zöglinge des Nachweises einer eigenen Leistung. Dieser Nachweis gilt als erbracht mit dem Besuch der Eliteuniversität. Positiv hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Studierenden und sogar der Ehemaligen, die engen Kontakt halten mit ihrer Hochschule und diese mit großzügigen Spenden versehen. Nichts anderes als Korpsgeist, mit dem die Karrieren gesichert werden, ist in dieser Bindung an die Institution zu sehen.
So äußert sich in der Sehnsucht nach den Eliten wieder einmal nichts anderes als die Sehnsucht des Kleinbürgers nach Sicherheit. Doch hilft paradoxerweise in der Gesellschaft der Moderne mit ihren Zumutungen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nur ein Mehr, nicht ein Weniger an Demokratie.
Die Autorin ist Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt
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