: Hände weg von Nordkorea!
Die Versuchung mag groß sein – aber schon der Versuch einer militärischen Lösung der Nordkoreakrise gefährdet weit mehr als den Frieden zwischen den beiden Koreas
Kaum eine Kritik der amerikanischen Irakpolitik kommt derzeit ohne den Verweis auf die Washingtoner Doppelzüngigkeit im Hinblick auf Nordkorea aus. „Ich habe Schwierigkeiten, die unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu erklären“, betonte Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung zur Irakkrise, in der er das Waffenpotenzial Nordkoreas im Vergleich mit dem Irak als die größere Bedrohung charakterisierte. Ähnlich argumentierte kürzlich der Gastgeber der Blockfreienkonferenz in Malaysia, Premierminister Mahathir Mohamad. Er zog Washingtons Zurückhaltung in der Nordkoreafrage als Beweis dafür heran, dass es den USA im Irak eben doch nicht primär um die Beseitigung von Massenvernichtungsmitteln gehe.
Die im Kontext der Irakentscheidung durchaus nachvollziehbaren Argumente Schröders und Mahathirs bergen ein großes Risiko: Sie helfen Washington, eine zweite Front in Ostasien zu eröffnen. Denn wie auch immer der Irakkonflikt weiter verläuft – die ihm innewohnende Verschärfung der diplomatischen und militärischen Gangart aller Seiten droht in Nordkorea ihre Fortsetzung zu finden. Schon heute muss deshalb jede Äußerung in der Irakfrage auf ihre Konsequenzen in diesem Teil der Welt überprüft werden.
So wie es um die Argumente vieler Kriegskritiker im Irak steht, hätten Kriegsbefürworter in Nordkorea heute leichtes Spiel. Wenn nur die Erfolge von UN-Inspektionen zukünftig geeignet wären, den USA das Recht zu entziehen, UN-sanktioniert Krieg gegen angehende Atomstaaten zu führen – stünde es schlecht um die Friedenschancen auf der koreanischen Halbinsel. Wie überhaupt unter dem Eindruck der transatlantischen Diskussionen der letzten Jahre, vom Kosovo über Afghanistan bis zum Irak, alles für Krieg gegen Nordkorea zu sprechen scheint.
Da ist zunächst das für den Kosovokrieg ausschlaggebende Menschenrechtsargument: Nirgendwo lässt es sich heute überzeugender für eine militärische Intervention verwenden als im Falle Nordkoreas. Bis zu 400.000 Menschen sind im Laufe der Jahrzehnte in den nordkoreanischen Folter- und Exekutionslager umgekommen. Noch heute werden über 200.000 Menschen festgehalten. Dass ihr Schicksal kaum Anlass internationaler Empörung ist, liegt am bislang fehlenden Propaganda-Interesse Washingtons. Doch würde das Pentagon nur einige Satellitenaufnahmen der Lager veröffentlichen – der Ruf nach einer gewaltsamen Befreiung der Lager folgte auf der Stelle.
Zumal, wie einst im Kosovo, das Flüchtlingsproblem einer internationalen Lösung harrt. Heute verstecken sich zwischen 100.000 und 300.000 vor Hunger und Verfolgung geflüchtete Nordkoreaner in China. Die Regierung gewährt ihnen vor allem deshalb keinen Flüchtlingsstatus, weil sie im Falle ihrer Anerkennung einen Millionenexodus befürchtet. Wie im Kosovo könnte die Flüchtlings-Rückführung Interventionsanlass werden.
Ebenso überzeugend lassen sich die Antiterrorargumente für den Afghanistankrieg im Falle Nordkoreas verwenden. An der terroristischen Laufbahn von Diktator Kim Jong Il gibt es keine Zweifel. Er selbst erkannte den terroristischen Charakter seines Regimes an, als er gegenüber dem japanischen Premier Junichiro Koizumi im September vergangenen Jahres die Entführung japanischer Geiseln in den Siebzigerjahren einräumte. In den Achtzigerjahren übten Kims Agenten einen mörderischen Anschlag auf den südkoreanischen Präsidenten Chun Doo Hwan in Rangun aus und sprengten ein südkoreanisches Passagierflugzeug mit 115 Insassen in die Luft. Kein Wunder also, wenn heute US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Gefahr eines nordkoreanischen Atombombenprogramms vor allem darin erkennt, dass Pjöngjang seine Waffentechnik dem Al-Qaida-Netzwerk zur Verfügung stellen könnte. Rumsfelds Befürchtungen sind unter heutigen Umständen berechtigt: Politische Isolierung und wirtschaftliche Krise machen den Verkauf militärischer Hochtechnologie zur derzeit wichtigsten Deviseneinnahmequelle für Pjöngjang. Das Land gilt als weltweit wichtigster Raketentechniklieferant.
Ganau an dieser Stelle begehren Schröder und Mahathir auf: Warum zuerst den Irak entwaffnen, wenn Nordkorea die gefährlicheren Waffen besitzt und noch dazu die fragwürdigeren Waffengeschäfte führt? Doch dieses Argument könnte Washington bald umdrehen: Wenn schon der Irak mit militärischen Mitteln entwaffnet werden musste, dann erst recht Nordkorea. Zumal die USA auch hier über ein strategisches Motiv verfügen: Wozu im Irak das Streben nach einer politischen Neuordnung im Nahen Osten verleitet, könnte das Interesse an einer Eindämmung Chinas im Fall Nordkoreas führen.
Umso erschreckender ist, wie wenig derzeit die ostasiatischen Folgen einer Kriegsoption nach den Mustern des Kosovo-, Afghanistan- und Irakkonfliks im Fall Nordkorea in den internationalen Diskussionen bedacht werden. Was der ehemalige US-Außenminister Warren Christopher Washington bescheinigte, nämlich die Unfähigkeit zwei internationale Krisen gleichzeitig zu bedenken, gilt auch für alle anderen Akteure in der Irakkrise. Die Überlegungen reichen über diffuse Sorgen vor einer nuklearen Aufrüstung Japans als Antwort auf eine nordkoreanische Atomdrohung nicht hinaus. China wird mit dem nordkoreanischen Flüchtlingsproblem weitgehend allein gelassen, während sich in diesen Monaten unter dem Abklingen humanitärer Hilfe für Nordkorea erneut die Hungersnot im Land drastisch verschärft und die Verantwortlichen in Pjöngjang unter einen gefährlichen Handlungszwang stellt.
Dabei gibt es in der Nordkoreafrage eine klare Alternative zur transatlantischen Kriegspolitik der letzten Jahre: Sie trägt den Namen „Sonnenscheinpolitik“, stammt aus der deutschlandpolitischen Schule Willy Brandts, wurde vom Friedensnobelpreisträger Kim Dae-Jung unter den koreanischen Bedingungen neu formuliert und errang mit der Wahl des neuen südkoreanischen Präsidenten Roh Moo Hyun erst im vergangenen Dezember ein glänzendes Plebiszit.
Statt Nordkorea mit eventuellen Sanktionen und militärischen Drohungen einzuschüchtern, setzt die Sonnenscheinpolitik auf großzügige Hilfe und schreckt auch vor hohen Bestechungsgeldern nicht zurück, wenn sie den Diktator aus seiner selbst gewählten Isolierung holen. Diese Politik will die Befreiung der Todeslager und die Abkehr von der Atombombe mit den Verlockungen des Wohlstands erkaufen. Sie hat deshalb naturgemäß viele Gegner. Doch Nordkorea ist ein kleines, darbendes Land mit 22 Millionen Einwohnern – nicht viel mehr als die Bevölkerung Seouls. Es muss nicht zum Katalysator weltpolitischer Ereignisse werden – vorausgesetzt, der Weltsicherheitsrat, der sich dieser Tage der Nordkoreafrage annimmt, respektiert die auf demokratische Art und Weise selbst bestimmte Politik Seouls und überträgt seine inneren Zerwürfnisse in der Irakfrage nicht auf die koreanische Halbinsel. GEORG BLUME
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